October 06, 2022 CC BY 4.0 bilingual |
print comment deen |
Frauenliteratur, Migrationsliteratur, jüdische Literatur, Arbeiter*innenliteratur, homosexuelle Literatur: Als 'Randgruppen'‐Genres begleiten solche kleinen Literaturen die Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Gegenwärtig wachsen Zahl und Auflage von Texten, die die Lebens- und Erfahrungswelten marginalisierter Gruppen zum Thema haben, so stark, dass sie sich kaum mehr in Sparten einordnen und vom 'großen' Literaturbetrieb abgrenzen lassen. Romane wie bspw. Lin Hierses Wovon wir träumen (2022) oder Anke Stellings Schäfchen im Trockenen (2018) erzählen dabei realistisch und aus der Perspektive der ersten Person, die zumeist autobiographisch verbürgt ist. Sie weisen damit eine Nähe zu – ebenfalls verkaufskräftigen – essayistischen Texten wie Mely Kiyaks Frausein (2020) oder Carolin Emckes Wie wir begehren (2012) auf. Während diese 'Erfahrungsliteratur' derzeit einem Bedürfnis der Leser*innenschaft nachzukommen scheint, fordert sie die Institutionen professionellen Lesens doch heraus: Die Literaturkritik tut sich teils schwer, ihre ästhetische Qualität zu bewerten (Franzen 2019), und es wurde der Vorwurf laut, dass sie aufgrund ihrer Einladung zur Identifizierung das kritische Lesen bedrohe (Baßler 2021).
Die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit solchen Texten hat besondere Brisanz vor dem Hintergrund anhaltender identitätspolitischer Debatten. In Diskussionen beispielsweise um die Übersetzung von Amanda Gormans Gedicht The Hill We Climb zeigt sich, dass die gesellschaftliche Situierung von Kunstschaffenden für ästhetische Bewertungen zunehmend an Bedeutung gewinnt. Gleichzeitig scheinen die Fronten in den Auseinandersetzungen verhärtet: entweder werden Identitätskategorien verabsolutiert oder aber ihre Relevanz reflexartig zurückgewiesen. Statt sich auf eine Seite zu schlagen, gilt es hier, das Problemfeld auszudifferenzieren und seine internen Spannungen zu konturieren. Die fokussierten Texte sind dabei insofern instruktiv, als sie den Standort ihrer Protagonist*innen – als Frauen, Schwarze Person, trans* Person oder Bildungsaufsteiger*in – explizit markieren. Als 'Identitätsliteratur' stellen sie so einerseits erneut die Frage nach der Relevanz von Kategorien wie Geschlecht, Hautfarbe, Klasse etc. Ausgehend von ihrem Bestehen auf Differenz liefern sie andererseits konkrete Vorschläge, wie das Verhältnis von Partikularität und Universalität, Identität und Alterität gefasst werden kann.
Die Special Collection "Identitätsboom in der Gegenwartsliteratur", die Annika Klanke und Stephanie Marx in der referierten Open-Access-Zeitschrift GENEALOGY+CRITIQUE herausgeben, ist der Auseinandersetzung mit neuesten Erfahrungs- und Identitätsliteraturen gewidmet, die gegenwärtige Prozesse gesellschaftlicher Ausdifferenzierung begleiten. Dazu laden wir zur Einsendung von Abstracts ein und schlagen eine Perspektivierung der Lektüren über die Kategorien Erfahrung, Repräsentation oder Identifizierung vor:
-
Erfahrung: Die Kategorie der Erfahrung ist im 20. Jahrhundert vielfach für die Etablierung einer literarischen Gegenöffentlichkeit mobilisiert worden, beispielsweise in der Arbeiter*innenliteratur oder der Literatur der Zweiten Frauenbewegung. Diese Texte zeichnen sich, ähnlich wie die gegenwärtige Literaturproduktion, durch die Selbstthematisierung eines schreibenden Ichs, die Nähe bzw. den Zusammenfall von Autor*in und Text-Ich oder auch die Authentifizierung des Geschriebenen durch verschiedene Referentialisierungsstrategien aus. Welche Funktionen und welchen Stellenwert hat die literarische (Re-)Produktion von Erfahrung gegenwärtig? Welchen Ästhetiken folgt deren Darstellung? Welche Genres bieten sich besonders an und warum? Welche Verschiebungen literarisch-literarturwissenschaftlich etablierter Autor*innenschaftskonzepte provozieren gegenwärtige Identitäts- und Erfahrungsliteraturen?
-
Repräsentation: Die Gegenwartsliteratur zeichnet sich durch eine Diversität an gezeigten Lebens- und Erfahrungswelten aus. Indem sie literarisch repräsentiert werden, wird die Sichtbarkeit gemeinhin marginalisierter Gruppen erhöht und die Spezifität ihrer Lebenswelten anerkannt. In literarischen Texten werden darüber hinaus Beziehungsweisen zum Selbst und zu anderen entworfen, Möglichkeiten eines 'lebbaren' Lebens erkundet und Lebensästhetiken zur Disposition gestellt. Die Texte prägen auf diese Weise aber auch kulturelle Vorstellungen davon, was es z.B. heißt, Schwarz oder trans* zu sein. Welche Vereindeutigungen, Verengungen oder (strategischen?) Essentialisierungen lassen sich in diesem Zusammenhang beobachten?
-
Identifizierung: Aufgrund ihrer detaillierten Darstellung von Subjektivierungsweisen machen gegenwärtige Erfahrungs- und Identitätsliteraturen ein Erleben greifbar, das zuvor weder Gegenstand öffentlicher Diskurse noch als Effekt gesellschaftlicher Situiertheit anerkennbar war. Indem sich Leser*innen in den Romanen und Essays 'wiederfinden', verhelfen diese zu einer Entprivatisierung bestimmter Affekte und Emotionen. Zugleich ermöglichen die Texte Alteritätserfahrungen und können dadurch 'Empathielücken' schließen. Die Kehrseite solcher identifikatorischer Potentiale sind rein affirmative Lektürehaltungen oder die Verabsolutierung von Differenz und Partikularität. Welche Lesestrategien legen die Texte diesbezüglich, beispielsweise durch Homogenisierungen oder gebrochene Erzählweisen, nahe?
Abstracts in deutscher oder englischer Sprache und im Umfang von maximal einer Seite sind auf Deutsch oder Englisch bitte bis zum 15. November 2022 an Annika Klanke (annika.klanke@uni-bielefeld.de) und Stephanie Marx (marx@genealogy-critique.net) zu senden. Die Autor*innen erhalten bis Anfang Dezember eine Zu- oder Absage. Die ausgearbeiteten Beiträge sollen bis spätestens Ende März 2023 vorliegen. Sie durchlaufen dann ein Begutachtungsverfahren (peer review) und erscheinen bei positivem Ausgang noch im Lauf des Jahres 2023.
GENEALOGY+CRITIQUE (genealogy-critique.net) ist eine referierte Open-Access-Zeitschrift, die von der Londoner Open Library of Humanities publiziert wird – einem von Wissenschaftler*innen geführten, gemeinnützigen Open-Access-Verlag, der keine Publikationsgebühren von Autor*innen erhebt. Sie ist interdisziplinär ausgerichtet und zielt darauf ab, historisch-genealogische und kritische Theorieansätze mit Konzepten und Methoden aus unterschiedlichen kultur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen zu verbinden. Alle in G+C veröffentlichten Beiträge durchlaufen ein Peer-Review-Verfahren, sind unter der Creative-Commons-Lizenz CC BY frei verfügbar, werden u.a. im Directory of Open Access Journal indexiert und langfristig in HTML, PDF und XML archiviert.