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Liselotte epistemisch | G+C Blog

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Liselotte epistemisch

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Elisabeth Charlotte von Orléans oder Liselotte von der Pfalz (1652-1722), Schwägerin von Louis XIV und jahrzehntelanges Mitglied des schillerndsten Hofes der Zeit, ist vor allem als Briefautorin und commère du Grand Siècle in die Geschichte eingegangen. Von ihrer umfangreichen Korrespondenz ist eine Serie von über 5'000 Briefen erhalten, die meist in überaus direktem oder "natürlichem" Ton vom französischen Hofleben an die deutsche Verwandtschaft berichten. Seit der (Wieder-)Entdeckung der Briefsammlung um 1800 prägte vor allem dieses hervorstechende Stilelement der "Natürlichkeit" die Rezeption – sei es als moralische Kritik am dekadenten ancien régime oder später als Dokument für eine mit dem "fremden" Umfeld kontrastierenden "teutschen" Volkstümlichkeit und Echtheit. Zuletzt avancierte "Liselotte" durch zahlreiche Neueditionen, Biographien und Verfilmungen zur populärgeschichtlichen Ikone. Ungeachtet des "schäppernden Pastelltons" vieler dieser Darstellungen bietet Liselottes Hinterlassenschaft vielleicht auch interessante Einblicke für eine von Foucault inspirierte Forschung.


Louis XIV et la famille royale (Jean Nocret, 1670)

Mit 19 Jahren von Ihrem Vater, dem pfälzischen Kurfürsten, aus strategischen Erwägungen in die Ehe mit Philippe I. von Orléans gegeben, findet sich Liselotte nach en route erfolgter prokuratorischer Vermählung und Konversion im strengen repräsentative régime am Hof des Sonnenkönigs ein. Trotz zahlreicher Klagen über die Widrigkeiten und Zwänge des Palastlebens war für die standesbewusste Herzogin ihre Stellung und der Wert der nahen Verbindung zum mächtigen Monarchen vorrangig. Dieser Logik der Allianz war auch ihr "problematisches" Eheleben untergeordnet; denn Philippe widmete sich nach der pflichtschuldigen Zeugung von Nachkommen wieder ausschliesslich seinen favorits und garçons, so dass Liselotte in einem späteren Brief ironisch mutmasste, ob sie nach 17-jähriger Abstinenz "[..] wieder eine jungfer geworden [..]"[1] sei. Obschon der Bruder des Königs also "[..] nichts in der welt im kopf als seine junge kerls [..]"[2] hat und sich "[..] ganz und gar von den liederlichen bursch regieren [..]"[3] lässt, ist Liselotte um gute Beziehungen bemüht: "Was ich auch tun oder sagen mag, umb zu weisen, dass ich sein leben nicht übel finde, so trauet er mir doch nicht und macht mir alle tage neue händel bey dem König [..]"[4]. Das Skandalon ist für Liselotte auch nicht die "Homosexualität" ihres Gemahls, sondern viel eher die Heiratspolitik des verwitweten Königs. Dieser, nach Jahren exzessiver Promiskuität um sein Seelenheil und die Zukunft seiner illegitimen Nachkommen besorgt, hatte nicht nur die kaum adlige Erzieherin seiner unehelichen Kinder morganatisch geehelicht, sondern war auch bestrebt, deren Blut mit dem der Prinzen Frankreichs zu mischen. Die berüchtigten Ausfälle gegen Madame de Maintenon, mit denen Liselotte in zahlreichen Briefen ihren "natürlichen" Stil zu immer neuen Blüten treibt, bezeugen ihre Empörung, dass eine solche "Rompompel" "[..] wie sie ignorant ist und nichts als das bürgerleben verstehet und doch über alles regieren will [..]"[5], sich zur heimlichen Herrscherin aufspielen und den König für sich einnehmen kann. Noch unerhörter ist aber, dass ihre Tochter auf königlichen ordre hin einen "[..] hinkenden bastard zum mann [..]"[6] nehmen muss und auch ihr Sohn zur Vermählung mit einer ausserehelich Geborenen gezwungen wird – einem "unangenehm und boshaft ding", das "[..] einem ärschen wie wie 2 tropfen wasser [..]"[7] gleicht.

"[D]enn ich bin zu natürlich, umb anderst zu schreiben, als ich gedenke"[8]Liselottes Natürlichkeit des Ausdrucks macht den Reiz bei der Lektüre ihrer Briefe aus, zumal sie den Zugang zum "menschlichen Kern" einer historisch fernen Figur suggeriert. Allerdings wäre mit Foucault das "Denken", das sich im "Schreiben" so "natürlich" darbietet, wiederum in die Distanz seiner Historizität zu rücken – kurzum: es zeigte sich dann bis in seine emotionsgeladenen Werthaltungen hinein als tief im "Allianzdispositiv"[9] verwurzelt; dementsprechend haben auch Liselottes freimütige Auslassungen über "Sexualität" oder "Devianz" offenkundig wenig mit einer bürgerlichen oder modernen "Natürlichkeit" des Empfindens zu tun. Um wieder einmal "en general den plan vom hofe, wie er jetztunder ist"[10] zu zeichnen, spart Liselotte denn auch nicht mit Schilderungen von "wüstereyen" und "debauchierten": "[..] Es seind deren allerhand Gattungen, es seind, die die Weiber wie den Tod hassen und nichts als Mannsleute lieben können; andere lieben Männer und Weiber; andere lieben nur Kinder von zehn, elf Jahren, andere junge Kerls von siebzehn bis fünfundzwanzig Jahren und deren seind am meisten; andere Wüstlinge sein, so weder Männer noch Weiber lieben und sich allein divertieren; deren ist die Menge nicht so gross als der anderen. Es seind auch, so mit allerhand Wollust treiben, Vieh und Menschen, was ihnen vorkommt. Ich kennen einen Menschen hier, so sich gerühmt hat, mit allem zu tun gehabt zu haben, bis auf Kröten [..]"[11]. Das ausführliche typologische tableau scheint – aristokratische Privilegien der Freizügigkeit abgerechnet – andere als die einer modernen "Natürlichkeit" gemässen Vorstellungen und Wertungen anzudeuten… und erinnert in seiner "epistemischen Fremdheit" vielmehr an Borges berühmte Heterotopie in Foucaults Ordnung der Dinge.[12]




[1] Briefe der Liselotte von der Pfalz (hg. und eingeleitet von Helmut Kiesel). Franfurt a. M. / Leipzig 1981. S. 106.
[2] l.c., S. 109.
[3] l.c., S. 119.
[4] l.c., S. 109.
[5] l.c., S. 165.
[6] l.c., S. 75.
[7] l.c., S. 98.
[8] l.c., S. 113.
[9] vgl. Michel Foucault. Der Wille zum Wissen (Sexualität und Wahrheit I). S. 128.
[10] Briefe der Liselotte von der Pfalz (hg. und eingeleitet von Helmut Kiesel). Franfurt a. M. / Leipzig 1981. S. 65.
[11] Die Briefe der Liselotte von der Pfalz, Herzogin von Orleans (ausgewählt und biographisch verbunden von C. Künzel). München 1912. S. 288.
[12] Michel Foucault. Die Ordnung der Dinge. Frankfurt a. M. 1971. S. 17.

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