Minengürtel oder unterirdische Stollen? Anmerkungen zu Foucaults Politik des Bergbaus
Patrick Kilian
July 05, 2015 DOI: 10.13095/uzh.fsw.fb.107 editorial review CC BY 4.0 |
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Bergbau 1.0: Der unterirdische Stollen.
"Schreiben reizt mich nur in dem Maße, wie es sich in der Wirklichkeit eines Kampfes verkörpert, als Instrument, als Taktik, oder Beleuchtung. Ich möchte, dass meine Bücher Skalpelle, Molotowcocktails oder Minengürtel sind und dass sie nach Gebrauch wie ein Feuerwerk zu Asche verglühen."[1]
Diese vielzitierten Zeilen, mit denen Foucault 1975 in einem Gespräch mit Jean-Louis Ezine sein intellektuelles Selbstverständnis beschrieb, scheinen das Werk und die 'explosive' Wirkung des widerspenstigen Denkers in verdichteter Weise auf den Punkt zu bringen. Nicht zuletzt hat eben dieser Satz seinen Weg auf den Buchrücken des zweiten Bandes der deutschen Ausgabe der Dits et Ecrits gefunden, nach deren Übersetzung er hier auch zitiert wurde. Foucault als "Sprengmeister"[2] mit "Molotowcocktail oder Minengürtel" – im turbulenten Klima zwischen dem hoffnungsvollen Mai 1968 und dem erschütternden Herbst 1977, in dem Philosophie vor allem theoretische Praxis, manchmal aber auch Revolution sein wollte,[3] weckten diese Worte Assoziationen und waren möglicherweise selbst so etwas wie Dynamit oder zumindest Brandbeschleuniger. Umso erstaunlicher ist es, dass die ältere und bis dahin maßgebliche Übersetzung des Interviews, die 1976 in dem schmalen Merve-Band Mikrophysik der Macht erschien, eine minimale, aber vielleicht nicht ganz unwesentliche Verschiebung verzeichnet: Anstelle des "Minengürtel" steht dort "unterirdische Stollen": "Ich möchte, daß meine Bücher so etwas wie Operationsmesser, Molotowcocktails oder unterirdische Stollen sind und daß sie nach dem Gebrauch verkohlen wie Feuerwerke."[4] Im französischen Original liest man mit dieser Übersetzung übereinstimmend von "galeries de mine"[5]. Es ist eine winzige – ja geradezu spitzfindige – editorisch-philologische Petitesse, aber ich beginne mich doch zu fragen, was Hans-Dieter Gondek in seiner Übersetzung dazu bewogen haben mag, aus den unterirdischen Stollen plötzlich Minengürtel zu machen? Ich will diese Verschiebung im Folgenden zum Ausgangspunkt für einige Überlegungen machen, die Foucaults Denken anhand dieser Spur zwischen dem 19. Jahrhundert und unserer Gegenwart zu verorten versuchen.
Ging es bei der Neuübersetzung möglicherweise darum, die Textstelle durch den erneuten Verweis auf einen weiteren Sprengkörper semantisch noch stärker aufzuladen? Ist die metaphorische Anziehungskraft zwischen "Minengürtel" und "Molotowcocktail" stärker als die zwischen Straßenkampf und Bergbau? Dabei verweisen gerade das Bild der unterirdischen Grabung und damit der Begriff des "unterirdischen Stollen" auf eine eigene Geschichte: Bereits 1868 hatte Johann Gustav Droysen die Arbeit des Historikers in ähnlicher Weise wie Foucault mit der Arbeit unter Tage assoziiert. So notierte er in seiner geschichtstheoretischen Grundlagenschrift Grundriss der Historik über den Vorgang der Materialerhebung: "Die Heuristik schafft den Stoff zur historischen Arbeit herbei, sie ist die Bergmannskunst, zu finden und ans Licht zu holen."[6] Es soll hier nicht darüber hinweggetäuscht werden, dass Foucault und Droysen wohl mehr trennt als verbindet, die Metapher des Bergbaus jedoch teilen beide. Aber auch in unserer Gegenwart taucht die Metapher des Bergbaus an zentraler Stelle auf, und auch hier geht es um die Verarbeitung von Informationen zu Wissen: So entwickelten sich die Begriffe des Data Mining und Text Mining sowie die damit verbundenen Praktiken in den letzten Jahren zu Schlüsselkonzepten der digitalen Gesellschaft, auch wenn sich Droysens Archive in der Zwischenzeit in Datenbanken verwandelt haben, und an die Stelle der Historiker nunmehr Statistiker und Informatiker getreten sind. Deren Arbeitgeber sind auch nicht mehr Universitäten oder Bibliotheken, sondern Regierungen, Geheimdienste und Unternehmen. Mit Blick auf die technologisch strukturierte Logik des "Informationskapitalismus", der diese neuen 'Banken' in den letzten Jahren vermehrt für sich entdeckt hat, schrieb Frank Schirrmacher 2013 in seinem vielbeachteten Buch Ego: "Er hat das menschliche Denken mit einem Labyrinth von Stollen und Schächten untergraben und verarbeitet das ausgebeutete Rohmaterial auf Maschinen, die – je nachdem, auf welchem Schreibtisch sie stehen – Kriege führen, Revolutionen anzetteln, Geld erschaffen, Menschen kontrollieren oder die Fotos der letzten Urlaubsreise versenden können."[7] In dieser düsteren Diagnose unserer durch Big Data unterhöhlten Gesellschaft scheinen die – in den widersprüchlichen Übersetzungen ineinander verschränkten – Metaphern des "unterirdischen Stollens" und des "Minengürtels" bzw. des Daten-Bergbaus und der Revolution plötzlich in gespenstiger Weise zusammen zu finden. Folgt man Schirrmachers Vermutungen, so ist das digitale "Labyrinth von Stollen und Schächten" heute wesentlich gefährlicher als jeder Molotowcocktail in der Hand.
Bergbau 2.0: Das Rechenzentrum.
Das Graben unterirdischer Stollen war jedoch bereits entschieden politisch, lange bevor WikiLeaks und NSA im Zeitalter der Digitalisierung begannen, mit den Mitteln des Datenbergbaus um gesellschaftliche Machtverteilungen zu konkurrieren und ihre Tunnelsysteme immer tiefer in das scheinbar unendliche Informationsmassiv des Internets zu treiben. Waren diese Stollen, metaphorisch gesprochen, vielleicht schon immer politischer als Molotowcocktails und Sprenggürtel? Die Spur führt erneut zurück in das späte 19. Jahrhundert: 1887 schrieb Friedrich Nietzsche seiner Vorrede zur zweiten Ausgabe der Morgenröte mit Blick auf sein Selbstverständnis als Autor: "In diesem Buch findet man einen 'Unterirdischen' an der Arbeit, einen Bohrenden, Grabenden, Untergrabenden", dessen Interesse in erster Linie darin bestehe, "unser Vertrauen zur Moral zu untergraben".[8] Das Ausheben von unterirdischen Stollen und Gängen ist für ihn, anders als für Droysen, mehr als nur eine wissenschaftliche Praxis und gerät zu einer subversiven Waffe gegen die Autoritäten. Nicht nur entfernt erinnern seine Zeilen an Foucaults eingangs zitiertes intellektuelles Selbstportrait. Auf Nietzsches Einfluss in seinem Denken hin befragt, beschrieb Foucault in einem Interview von 1967 dann auch dieses Graben als den für ihn wesentlichen Impuls des deutschen Philosophen: "Außerdem hat Nietzsche entdeckt, dass die besondere Tätigkeit der Philosophie in der diagnostischen Arbeit besteht: Was sind wir heute? Was ist das für ein Heute, in dem wir leben? Zu dieser diagnostischen Tätigkeit gehörte für ihn auch, unter seinen Füßen Ausgrabungen vorzunehmen, um zu erklären, wie dieses ganze Universum des Denkens, des Diskurses und der Kultur, die sein Universum bildeten, entstanden war."[9] Diese von Nietzsche geerbte Diagnostik des unterirdischen Bohrens und Grabens sollte Foucault schließlich gleich in doppelter Hinsicht an eine Geste der Subversion koppeln: Zum einen wendete er sich mit seinen archäologischen Grabungen und der Freilegung historischer Denk- und Aussagesysteme gegen die hermeneutische Gewissheit eines überzeitlich identifizierbaren Sinns; zum anderen arbeitete er mit seinen genealogischen Tiefenbohrungen an der Delegitimierung der gegenwärtigen Machtstrukturen vermittels einer Konfrontation mit ihren historischen Herkunftslinien.[10]
Mir scheint, dass sich Foucaults kritisches und damit auch ebenso eminent politisches Denken wohl trefflicher mit der Arbeit eines "unterirdische Stollen" grabenden Bergmanns, als mit dem Aktionismus eines mit "Molotowcocktail oder Minengürtel" bewaffneten Revolutionärs umschreiben lässt. Denn wie es sich bereits bei Nietzsche ankündigte hatte, und von Foucault weiterentwickelt wurde, ist diese Arbeit unter Tage keineswegs unpolitischer als die Revolte auf der Straße, sie folgt lediglich einer anderen Logik. Und trotz seiner wiederholen Flirts und Annäherungsversuche mit den Studenten auf den Barrikaden, blieb Foucault jener kühle Archäologe, der beharrlich seine Tunnel durch die Sedimente historischer Denkstrukturen trieb, allerdings auch, um damit die Fundamente der existierenden Machtverhältnisse gewissermaßen aus dem Untergrund zu erschüttern. Gerade weil dieses unterirdische Graben und Bohren in unserer unmittelbaren Gegenwart eine andere Wendung genommen hat, und durch die Methoden des Data Mining, von seinen subversiven Potentialen weg, in ein ebenso machtvolles wie in vielerlei Hinsicht politisches Instrument der globalen Herrschafts- und panoptischen Überwachungsphantasien gedreht wurde, erscheint es produktiv, Foucault zu dieser Entwicklung zu positionieren. Schließlich scheint er mit seinem Denken und in seiner diskursanalytischen Praxis ein nicht nur wissenschaftliches, sondern auch politisches Instrument entwickelt zu haben, das nunmehr zu einem Leitparadigma unserer Gegenwart avanciert ist; ein gleichsam ambivalentes Paradigma, das sich nicht eindeutig zwischen Überwachung und Subversion verorten lässt.
Ein abschließender Gedanke: Nachdem in den letzten Jahren unter dem Stichwort Digital Humanities immer wieder die Frage diskutiert wurde, ob die computergesteuerten und quantitativ-statistischen Verfahren der Datenerhebung und -auswertung möglicherweise auch zu einem Paradigmenwechsel innerhalb der Geisteswissenschaften führen könnten,[11] wäre es weiterführend auch vielversprechend, diese neuen Entwicklungen mit Foucaults Denken zu konfrontieren. Diese Gegenüberstellung könnte eine Reihe von methodischen aber auch politischen Fragen aufwerfen: Wie verträgt sich die Arbeit des Archäologen Foucault mit der des digitalen Bergmanns? Wie verhalten sich seine diskursanalytischen "unterirdischen Stollen" zum Data Mining oder der von dem italienischen Literaturwissenschaftler Franco Moretti vorgeschlagenen Methodik des "distant reading"? [12] Und: Haben diese neuen technischen tools ein subversives (dem Molotowcocktail verwandtes) Potential, das Herrschaftsordnungen kritisch zu untergraben vermag, oder gehören sie vielleicht eher den Ordnungen der hegemonialen Machtdispositive an, vor denen Schirrmacher so nachdrücklich gewarnt hat? Gilt es der Goldgräberstimmung dieser neuen Bewegung mit Skepsis zu begegnen? Wie könnte ein theoretisch informierter Zugang zu diesen digitalen Praktiken aussehen, der die Spannung zwischen Machtausübung und -kritik bewusst mitreflektiert? Welche Politik verbirgt sich hinter den algorithmischen Logiken dieser Technologien, und wie müssen wir uns zur Politik dieser Instrumente verhalten?
[1] Michel Foucault: Auf dem Präsentierteller, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. II, 1970-1975, Frankfurt/M: Suhrkamp 2002, S. 888-895, hier: S. 894 (übers. v. Hans Dieter Gondek).
[2] Vgl. Michel Foucault: "Ich bin ein Sprengmeister". Ein Gespräch über die Macht, die Wissenschaften, die Genealogie und den Krieg, in: Nach Feierabend. Zürcher Jahrbuch für Wissensgeschichte 1 (2005), S. 187-204 (übers. v. Maurice Erb u. Philipp Sarasin); vgl. außerdem: Philipp Sarasin: Krieg und Wahrheit. Michel Foucault als Sprengmeister, in: ebd., S. 205-219.
[3] Vgl. hierzu: Philipp Felsch: Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960-1990, München: C.H. Beck 2015.
[4] Michel Foucault: Die fröhliche Wissenschaft des Judo. Ein Gespräch mit Jean-Louis Ezine, in: ders.: Mikrophysik der Macht. Über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin, Berlin: Merve 1976, S. 124-130, hier: S. 129 (übers. v. Walter Seitter).
[5] Michel Foucault: Sur la sellette. Entretien avec J.-L. Ezine, in: Les Nouvelles littéraires, Nr. 2477 (17.-23. März 1975), S. 3.
[6] Johann Gustav Droysen: Grundriss der Historik, Leipzig: Veit & Comp. 1868, S. 13.
[7] Frank Schirrmacher: Ego. Das Spiel des Lebens, München: Karl Blessing Verlag 2013, S. 12.
[8] Friedrich Nietzsche: Vorrede, in: KSA 3, S. 11f, zit. n.: Stephan Günzel: 'Unterirdische' Radikalaufklärung von Kant zu Nietzsche. Ein Beitrag zur philosophischen Archäologie und ihrer Epistemologie, in: Renate Reschke (Hg.): Nietzsche. Radikalaufklärer oder radikaler Gegenaufklärer? (= Nietzscheforschung Sonderband 2), Berlin: Akademie-Verlag 2004, S. 287-296, hier: S. 287f.
[9] Michel Foucault: Wer sind Sie, Professor Foucault?, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. I, 1954-1969, Frankfurt/M: Suhrkamp 2001, S. 770-793, hier: S. 784; zu Foucaults intensiver Nietzsche-Rezeption, siehe: Michel Foucault: Nietzsche, die Genealogie, die Historie, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. II, 1970-1975, Frankfurt/M 2002, S. 161-191.
[10] Zum subversiven Potential der Genealogie, vgl.: Martin Saar: Genealogische Kritik, in: Rahel Jaeggi u. Tilo Wesche (Hg.): Was ist Kritik?, Frankfurt/M: Suhrkamp 2009, S. 247-265.
[11] Vgl. hierzu die kürzlich von Simon Ganahl auf dem G+C Blog veröffentlichte Standortbestimmung. Simon Ganahl: Digital Humanities 2.0, in: foucaultblog (15.06.2015), DOI: 10.13095/uzh.fsw.fb.102, URL: http://www.fsw.uzh.ch/foucaultblog/featured/102/digital-humanities-20
[12] Franco Moretti: Distant Reading, London: Verso 2013.