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"Schließlich bin ich Sohn eines Chirurgen" | G+C Blog

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"Schließlich bin ich Sohn eines Chirurgen"

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In dem Gespräch, das Michel Foucault wahrscheinlich Anfang Juni 1968 mit dem Kulturjournalisten Claude Bonnefoy führte, das aus unbekannten Gründen abbrach und das erst 2011 unter dem Titel Le beau danger publiziert wurde[1], ließ Foucault sich auf das Experiment ein, über das, wie Bonnefoy sagte, "geheime Gerüst" seiner Bücher zu sprechen, über deren "Kehrseite" (S. 27). Foucault antwortet auf Bonnefoys Frage nach seinem Verhältnis zum Schreiben biographisch: Er sprach von seiner Kindheit und seiner Schulzeit, vor allem aber von seinem Vater, dem Chirurgen und Anatomie-Professor Paul-André Foucault, Sohn und Grosssohn von Ärzten und selbst Vater eines Chirurgen – Foucaults Bruder Denys –, verheiratet mit Anne Malapert, ihrerseits die Tochter eines Chirurgen, die es bedauerte, nicht Medizin studiert zu haben…

Welches geheime Gerüst also? Foucault sinniert, "vermutlich" liege hier eine "alte Erbschaft", indem er das Skalpell dieses Vaters für sich selbst "zum Federhalter gemacht" habe und auf dem Papier "dieselben aggressiven Zeichen" ziehe, die "mein Vater in den Körper der anderen schnitt" (S. 39), ja, dass er sich in der Position eines Anatomen befinde, der nur arbeiten könne, wenn sein Gegenstand tot ist. Wie ist diese auf den Vater bezogene Kennzeichnung der eigenen Schreibsituation einzuschätzen? Sind dies mehr als bloß biographische Kuriositäten, zu denen Foucault im Lauf des Gesprächs bemerkte, "ich weiss ganz genau, dass ich Ihnen alle diese Dinge nicht sagen sollte" (S. 53)? Hat denn Foucault nicht schon früh auf seinen Namen Paul-Michel verzichtet (ohne ihn allerdings auf amtlichen Dokumenten je ablegen zu können), weil dieser auf seinen Vater verwies, den er als Jugendlicher gehasst habe, wie Didier Eribon berichtet? Und gibt es nicht auch jenes von Hervé Guibert verbreitete Gerücht, dass der Vater seinen achtjährigen Sohn gezwungen habe, bei der Amputation eines Beins zuzuschauen, was Paul-Michels Abscheu vor der Medizin begründet habe…?[2] Das ist zwar kaum plausibel – mais quand-même! War Foucault nicht der schärfste Kritiker der Medizin?


Clinque de la Providence, Poitiers, Operationssaal, ca. 1930, Postkarte

Zuerst ist der Bezug auf den Vater im Gespräch mit Claude Bonnefoy tatsächlich negativ: Der Chirurg ist jener, der nicht spricht, so Foucault, sondern bestenfalls eine Diagnose stellt, um dann zu schneiden; vor allem aber hört er nur zu, "um die Rede des anderen zu durchdringen und auf die stumme Wahrheit seines Körpers zu stoßen". Dass er selbst zu schreiben begonnen habe, sei ein "Umsturz", eine "totale Konversion" in Bezug auf den Vater und seine nicht-sprachliche Form von Rationalität gewesen (S. 37). Es bedeutete überdies das Entdecken der "Sprache, die man seit seiner Kindheit gelernt hat", als der "einzige[n], wirkliche[n] Heimat" (S. 33). Dennoch, Foucault wird als Schreibender bekanntlich kein "Hermeneutiker" (S. 71), der die Sprache der anderen versteht und ihre Geheimnisse entziffert, selbst wenn sie tot sind, sondern sieht sich als "Anatom, der eine Autopsie vornimmt". Was das heißt, erläutert er folgendermaßen: "Mit meinem Schreiben durchlaufe ich den Körper der anderen, ich schneide ihn auf, ich hebe die Häute und Schichten ab, ich versuche die Organe bloßzulegen und indem ich die Organe freilege, versuche ich schließlich, den Herd der Verletzung, den Herd des Übels, dieses Etwas, das ihr Leben und ihr Denken ausgezeichnet hat und das in seiner Negativität letztlich alles organisiert hat, was sie gewesen sind, zum Vorschein zu bringen. Dieses giftige Herz der Dinge und der Menschen – im Grunde war es genau das, was ich immer offenzulegen versucht habe." (S. 41) Das sind, verdichtet, exakt die Worte, mit denen er fünf Jahre zuvor in Die Geburt der Klinik die anatomische Methode von Xavier Bichat beschrieben hat; im Vorwort zum Klinik-Buch heißt es daher auch – auf die neue pathologische Anatomie um 1800 bezogen –: "Man muss sich ein für alle Mal auf die Ebene der fundamentalen Verräumlichung und Versprachlichung des Pathologischen begeben, also dorthin, wo der beredte Blick, den der Arzt auf das giftige Herz der Dinge richtet, entsteht und sich sammelt."[3]


Clinque de la Providence, Poitiers, Operationssaal, ca. 1930, Postkarte

Die Parallelen zwischen dem chirurgischen Schneiden des Vaters, der pathologischen Anatomie Bichats und Michel Foucaults eigenem Schreiben sind eng. Es ist "im Grunde genau das": in alten Texten bzw. Korpora "Schichten" und "Häute" voneinander ablösen (i.e. jene anatomische Methode, die Xavier Bichat zum Begründer der Histologie werden ließ), und mit einer allein vom Blick geleiteten Analyse jenem Weg folgen, den der Anatom, wie Foucault in Bezug auf Bichats Methode sagte, als Verlauf der Krankheit durch die Gewebe hindurch schon präformiert vorfindet, um in der Tiefe des Korpus mit dem Messer in der Hand das "giftigen Herz der Dinge" freizulegen. Wenn es "genau das" ist – ist dann Diskursanalyse eine Spielart der pathologischen Anatomie?

Es ist jedenfalls auffallend, dass Foucault offensichtlich "etwas freilegen" wollte, dass er in der "Tiefe" der "Dinge und der Menschen" jenen "Herd" der "Negativität" herauszuarbeiten suchte, von dem aus der Verlauf der (Kranken-)Geschichte rekonstruierbar ist. Das kontrastiert zumindest auf den ersten Blick mit der Rede von der "Oberfläche", die in der Archäologie des Wissens so präsent ist. Allein, ist das ein Widerspruch? Schon im Vorwort zu Die Ordnung der Dinge bezeichnet es Foucault als sein Programm, jene Regelmäßigkeiten evident zu machen, die zwar an der Oberfläche zu sehen sind, aber von niemandem wahrgenommen werden, zumal nicht von den Zeitgenossen. Es ist erst die nachträgliche archäologische Analyse, die die diskursiven Regelmäßigkeiten, d. h. jene Strukturen, die das Sprechen und Denken ermöglichen, sichtbar macht. Sie ist, auch als Blick in die "Tiefe", auf die Oberfläche fixiert, so wie Bichats Blick auf die Gewebe ein "Flächenblick"[4] gewesen sei, der die manifesten Strukturen der Gewebe zu erfassen vermag, nachdem das Messer der Analyse den Körper geöffnet hat, um dem Auge den Blick in diesen dunkeln Raum zu gestatten. Ist es daher ein Zufall, dass Foucault im Vorwort zu Les mots et les choses dasjenige, was als verbindende Ordnung Ermöglichungsbedingung für Denken und Sprechen ist, was hingegen im Falle von diskursiven Heterotopien fehlt und jedes Sprechen in die Irre gehen lässt, den "Operationstisch" nennt…?[5]

Im Zentrum dieser – nun, nennen wir es Metaphorik, steht jener Aspekt, der in ganz besonderer Weise den Einsatz von Foucaults anti-hermeneutischer und anti-humanistischer Methodik der Geisteswissenschaften (die er mit dem Buch über Bichats pathologische Anatomie auf ein sicheres Fundament stellen wollte) erhellt: der Tod. Der Text-Körper der Tradition ist eine Leiche, die nicht mehr spricht und die auch nicht mehr − wovon der Hermeneutiker träumt − zum Leben erweckt werden soll: "Es gibt darin keinerlei Auferstehungstheologie, sondern eher die Feststellung, dass diese Vergangenheit tot ist." (S. 44) Foucault ist zwar Sohn eines Chirurgen, aber er hofft als Historiker nicht auf Heilung, sondern rechnet als Anatom apriori mit dem Tod jener, über die er schreibt. Daher spricht er nicht mit Toten, versucht nicht, ihre Stimmen zu vernehmen, sondern schneidet ihre Text-Korpora auf. Es gibt kein stärkeres Bild, mit dem Foucault seine Distanz zum hermeneutischen Verstehen hätte deutlich machen können, und es wird von hier aus auch klar, was die "Regelmäßigkeiten" im Kern sind, von denen seit Die Ordnung der Dinge in methodischer Absicht die Rede ist: Es sind Strukturmuster wie jene Gewebe und Organe, die Bichat sezierte, ohne dass dieser bei seinem Blick in die Tiefe des Körpers noch wie seine Vorgänger auf das Fundament der Linguistik vertraut hätte. Die Strukturen, die Foucault interessieren, haben ebenfalls nichts mit der linguistischen Struktur der Sprache zu tun. Sie haben zwar eine sprachliche Gestalt, aber Foucault versucht eher, wie ein Anatom ihre Ordnung zu "sehen", als wie ein traditioneller Geisteswissenschaftler ihren "Sinn" zu verstehen. Das kann man alles in der Archäologie des Wissens nachlesen, an deren Fertigstellung er damals arbeitete. Doch der Hinweis auf den Vater in diesem erst kürzlich publizierten Gespräch macht klar, dass der Begriff der "Archäologie", jenes Spiel mit Worten[6], auch eine Art Deckerinnerung ist.



[1] Le beau danger, Paris: Édition de l'EHESS 2011; Das giftige Herz der Dinge, Zürich/Berlin: diaphanes 2012 (engl.: Speech begins after death, University of Minnesota Press 2013); die Seitenzahlen im Text beziehen sich auf die deutsche Ausgabe. 2004 wurde eine von Schauspielern gesprochene Fassung des Gesprächs auf Radio France gesendet.
[2] Jim Miller: The Passion of Michel Foucault, Cambridge (Mass.), London: Harvard University Press, 1993, S. 365.
[3] Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt/M.: Fischer 1991 (Paris 1963), S. 9; vgl. Naissance de la clinique. Une archéologie du regard médical, Paris: Presses Universitaires de France 1963, S. VIII.
[4] Die Geburt der Klinik, S. 142.
[5] Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1978 (Les mots et les choses, Paris 1966), S. 19.
[6] Vgl. Archäologie des Wissens, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995 (Paris 1969), S. 15.

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