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Die Stimme der Massen und die politische Funktion der Intellektuellen: Daniel Defert über Michel Foucault | G+C Blog

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Die Stimme der Massen und die politische Funktion der Intellektuellen:
Daniel Defert über Michel Foucault

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0. ABSTRACT UND ZITIERUNG
1. AUF DER SUCHE NACH DEM WIDERSTAND
2. EIN POLITISCHES LEBEN ALS INTELLEKTUELLES ABENTEUER
3. MIT DEN MASSEN, NICHT FÜR DIE MASSEN
4. FOUCAULT ALS AUTONOMER
5. DIE GESCHICHTSSCHREIBUNG POLITISIEREN


Daniel Defert (2015), fotografiert von Claude Truong-Ngoc, Quelle: Wikipedia.

1. AUF DER SUCHE NACH DEM WIDERSTAND

Muss mit Daniel Deferts Buch Ein politisches Leben (2015) das Verhältnis von Intellektuellen und Unterworfenen in der politischen und theoretischen Praxis Michel Foucaults neu gedacht werden? Bedenkt man, dass Foucault mit seinen Büchern der mittleren 1970er Jahre (Überwachen und Strafen und Der Wille zum Wissen) antrat, Machtverhältnisse unterhalb der Ebene des Staates zu untersuchen, dann verwundert es, dass subalterne Akteure[1] und deren kollektiver Widerstand dort eine so geringe Rolle spielen. Denn wenn Foucault vom "strikt relationalen Charakter der Machtverhältnisse" ausgeht und die letzteren "nur kraft einer Vielfalt von Widerstandspunkten existieren"[2], so kann politische Handlungsmacht nicht nur einer Seite zugesprochen werden.

Doch genau das suggerieren Foucaults konkrete Analysen der Sozialtechnologien. Es handelt sich bei ihnen keineswegs um Geschichten, in denen die Perspektive des Widerstands von zentraler Bedeutung ist, sondern um die Genealogie von Instrumenten zu dessen (präventiver) Bekämpfung. Zwar reagieren Sozialtechnologien auf Widerstände – etwa die "volkstümlichen Gesetzwidrigkeiten", die "sich während der Revolution zu eigentlich politischen Kämpfen ausgeweitet haben".[3] Und gewiss schreibt Foucault in diesem Zusammenhang, das Strafsystem habe "immer auch Widerstände hervorgerufen, Kämpfe provoziert und Reaktionen ausgelöst".[4] Doch bleiben die Widerstände und Kämpfe selbst und deren konkrete Akteure bei ihm auffallend blass. Im Zentrum der Analyse von Überwachen und Strafen – für Der Wille zum Wissen könnte Ähnliches gezeigt werden – stehen Techniken und Strategien der Herrschaftssicherung. Der Widerstand der subalternen Klassen ist nur Anlass der Entwicklung von Sozialtechnologien oder erscheint als reaktiv.

Das ist wohl auch einer der Gründe für die späteren Debatten zur (Un-)Möglichkeit des Widerstands bei Foucault. Diese haben schließlich auch die Annahme hervorgebracht, Foucault habe sich in den 1980er Jahren von der Politik auf eine individuelle Ethik zurückgezogen. Doch liegt die These viel näher, dass Foucault keinen Begriff einer Politik gegen Herrschaft entwickelt hat bzw. dass in seinem Begriff der Macht beides eingeebnet wird.[5] Selbst wenn man wie Foucault davon ausgeht, dass auch politischer Widerstand nicht jenseits von Macht situiert werden kann, so wäre es doch sinnvoll, Herrschaft und Politik nicht mit dem Begriff der Macht zusammenfallen zu lassen. Andernfalls kann kaum beschrieben werden, wo sich Herrschaftsverhältnisse stabilisieren (= Herrschaft) und wo um sie gestritten und gekämpft wird (= Politik).

Jacques Rancière, der sich in den 1970er Jahren im nahen politischen und akademischen Umfeld Foucaults bewegte, hat ganz in diesem Sinn deutlich gemacht, dass die Rede von einer allgegenwärtigen Macht geeignet ist, die möglichen Spielräume einer subversiven Politik gegen die Herrschaftsverhältnisse zum Verschwinden zu bringen: "Der Begriff der Macht […] erlaubte, zu versichern 'alles ist politisch', weil es überall Machtverhältnisse gibt […]. Wenn alles politisch ist, ist es nichts […]. Nichts ist also an sich politisch. Aber alles kann es werden."[6] Politik in diesem Sinne ist ein kollektiv geführter Streit um die Einrichtung der Gesellschaft, der die Frage impliziert, welche ihrer Bereiche (wie z.B. der Haushalt in der Frauenbewegung oder die Gefängnisse bei Foucault) als politisch gelten und wem die Legitimität zugesprochen wird, sich politisch zu äußern (entsprechend etwa Frauen oder Häftlinge). Das impliziert notwendig eine starke Rolle jener subalternen Akteure, die in Foucaults Schriften marginalisiert werden.


2. EIN POLITISCHES LEBEN ALS INTELLEKTUELLES ABENTEUER

Die Publikation eines Interviews mit Foucaults Lebensgefährten Daniel Defert lässt nun allerdings erkennen, dass politische Auseinandersetzungen und subalterne Akteure zumindest als Hintergrund von Foucaults Schriften der 1970er Jahre doch eine größere Rolle spielten. Ein politisches Leben (2015, das Original Une vie politique erschien 2014) basiert auf Gesprächen Deferts mit Philippe Artières und Éric Favereau in der Villa Medici in Rom, die von ihm mit Joséphine Gross bearbeitet wurden. Um die wichtigste These gleich anzusprechen: Aus Deferts Perspektive war es das politische Anliegen Foucaults, die Stimmen der Subalternen hörbar zu machen und die Figur des großen Intellektuellen dabei zurückzunehmen. Dies steht allerdings in Spannung zu den genannten Schriften Foucaults und wirft die Frage nach dem Verhältnis zwischen seiner politischen und seiner theoretischen Tätigkeit auf.[7]

Den Schwerpunkt des Buches bildet die Tätigkeit Deferts für die von ihm nach Foucaults Tod initiierte Organisation AIDES, welche die Auseinandersetzung mit der Krankheit AIDS besonders unter Einbezug der Perspektive der Betroffenen politisierte. Für den hier zur Diskussion stehenden Zusammenhang sind hingegen die Kapitel zwei bis fünf von besonderem Interesse, weil in ihnen von Deferts politischer Arbeit der frühen 1970er Jahre die Rede ist, in die Foucault involviert war. Defert, der Sohn einer zum Katholizismus konvertierten jüdischen Mutter und eines Friseurs, kann im Unterschied zum bürgerlichen Foucault als Bildungsaufsteiger gelten und wurde unter anderem über die Studierendengewerkschaft L'Union Nationale des Etudiants de France (UNEF) politisch sozialisiert. Als zentrale politische Ereignisse seines gesamten Lebens nennt Defert neben der Befreiung vom Nationalsozialismus und dem Algerienkrieg "das intellektuelle Abenteuer, welches ich 68 mit den Gefängnissen, Foucaults Tod und der Auseinandersetzung mit Aids […] erlebt habe".[8]

Laut Defert wurden die Bewegung von 1968 und die Frage des Gefängnisses durch die massive Polizeigewalt gegen die Aktivist_innen miteinander verbunden – eine Erfahrung, die Foucault schon ab März in Tunesien machte, und mit der Defert selbst im Pariser Mai konfrontiert wurde (Defert, S. 33f.). Dies habe dazu geführt, dass er sich, Rancières Beispiel folgend, der Organisation des prisonniers politiques (OPP) angeschlossen habe, die Teil der Gauche Prolétarienne war, der wichtigsten spontaneistischen und maoistischen Organisation im Frankreich der Jahre 1968 bis 1973. Die Bewegung von 1968 war für Defert im Rückblick "eine große Erhebung, die in unserer Gesellschaft die Machtverhältnisse, das Verhältnis zur Autorität und zum Geschlecht […] grundlegend verändert hat" (Ebd., S. 40). Diese entscheidende politische Neuerung verband sich nun Defert zufolge mit einer wissenschaftlichen Erfahrung, einem 'intellektuellen Abenteuer'. Denn die Massen konnten für Defert im Pariser Mai eine auch theoretisch "befreiende Wirkung" durch "den außergewöhnlich klaren Blick, den die Leute hatten" entfalten: "Seit diesem Tag war die Gesellschaftsanalyse für mich nicht mehr eine Angelegenheit des Soziologen, sondern der Massenbewegung" (Ebd., S. 36).


Foto von der Revolte im Gefängnis von Nancy, 1972, aufgenommen von Gerard Drolc.

3. MIT DEN MASSEN, NICHT FÜR DIE MASSEN

Damit ist ein neues Verhältnis der Intellektuellen und der Massen angesprochen, in dem den letzteren eine privilegierte epistemische Position zugesprochen wird. Die Frage der emanzipatorischen politischen Praxis dieser Jahre war Defert zufolge, wie die Stimme der Massen in ein öffentlich wahrnehmbares Wissen transformiert werden kann. Als Scharnier zwischen den Subalternen und der Öffentlichkeit können auch bei ihm die Intellektuellen fungieren. Doch ändert sich gegenüber verbreiteten Auffassungen – etwa bei Karl Mannheim, Pierre Bourdieu oder dem frühen Louis Althusser – die Verteilung der Rollen zwischen Massen und Intellektuellen, denn die privilegierte Position wird nicht den letzteren zugesprochen: "Es geht nicht um die Legitimität des Intellektuellen als Intellektueller, sondern um die Legitimität der einfachen Leute, die ein kollektives, ein kollektiviertes Wissen haben. Eben das, was wir anhand des Gefängnisses oder von Aids gemacht haben: man kollektiviert ein Wissen, das die Kranken haben" (Ebd., S. 57).

Es sind also nicht die Intellektuellen, welche den Subalternen zu einem rationalen Wissen verhelfen, sondern die Annahme ist, dass ein solches Wissen bei diesen bereits vorhanden ist und die Intellektuellen dabei helfen, ihm öffentlich Gehör zu verschaffen. Deferts Äußerung lässt allerdings eine Ambivalenz anklingen, denn das kollektive Wissen der Subalternen muss gleichwohl in der politischen Praxis seinerseits kollektiviert werden. Es ist dabei "nicht einfach, die Stimme der Massen vernehmlich zu machen" (Ebd., S. 40). Denn, so ein Beispiel Deferts: "Was von einem Arbeiter kam, war einfach nicht verständlich und akzeptabel. Der 'Diskurs der Massen' musste also viele Vermittlungen überwinden" (Ebd., S. 41). An genau diesem Punkt hat Rancière später seinen Begriff der Politik entwickelt, der auf die Veränderung der Bedingungen zielt, unter denen etwas als politisch rationales Wort und nicht nur als unartikuliertes Geschrei gilt: "Es gibt Politik", indem "eine lautliche Aussendung als Rede verstanden […], während eine andere nur als Lärm wahrgenommen wird".[9]

Dies wirft für die konkrete politische Praxis Probleme auf – und an dieser Stelle bringt Defert Foucault ins Spiel. Im Umfeld der Gauche Prolétarienne kursierte anfangs die Idee, sich die Position 'großer Intellektueller' wie Foucault zunutze zu machen: "Die Idee bestand darin, von der Sichtbarkeit derer zu profitieren, die man nicht verhaften konnte […]. Und in der Tat, als Foucault verhaftet wurde, sorgte das für Aufsehen in den Zeitungen. Genau das strebten die Aktivisten an, während Foucault es verabscheute" (Ebd., 46). In einer solchen Politik der Skandalisierung geht es um die öffentliche Sichtbarkeit des Intellektuellen, die für die Subalternen genutzt werden soll. Der Intellektuelle ist damit kein einfaches Glied der Übersetzung, sondern das entscheidende Scharnier – was Foucault offensichtlich ablehnte. In der OPP war "geplant, dass einige bekannte Intellektuelle an den Toren des Gefängnisses klingeln sollten […], dass sie gewaltsam abgewiesen werden würden, dass es davon dann Fotos in der Presse geben würde und dass das den Hungerstreik unterstützen würde" (Ebd., 53).

Von einer solche Praxis distanzierten sich Foucault und Defert: "Ich bin nicht in einem Milieu aufgewachsen, in dem Intellektueller zu sein einen besonderen Wert hatte, und Foucault […] war in dem Punkt sehr schamhaft. Ich habe mich nie für einen Intellektuellen gehalten […], da ich mich einer Sache und nicht dem Status eines Wortführers verpflichtet fühlte" (Ebd., 47). In der nach einem Namensvorschlag von Foucault gebildeten neuen Groupe d'information sur les prisons (GIP) (1971-1973) schlug dieser eine gänzlich andere Strategie vor, nämlich "nicht […] sich […] mit den Behörden auseinanderzusetzen, sondern geheime Untersuchungen zu unterstützen, um den Häftlingen Gehör zu verschaffen. Das hatte von vornherein nichts mit der von der GP befürworteten Idee einer öffentlichen und nutzlosen Konfrontation zu tun" (Ebd., 54).

Die Provokation einer öffentlichen Auseinandersetzung mittels einer Aktion von Intellektuellen sollte also ersetzt werden durch den Versuch, die Stimmen der Gefangenen öffentlich hörbar zu machen. Die Intellektuellen bilden dabei nur noch ein Glied der Übersetzung. Foucault sagt dazu 1971: "Das Wissen über die Haftbedingungen […] – all das ist auf individueller Ebene ja längst vorhanden, aber es kann sich kein Gehör verschaffen […]. Die Information muss zirkulieren".[10] Diese neue Rolle bezeichnete Foucault einige Jahre später als 'speziellen' im Unterschied zum 'universellen' Intellektuellen: Begrenzt der erstere seine Tätigkeit auf einen bestimmten Bereich, so erlangt er größere unmittelbare Kampferfahrung als der allzuständige Lehnstuhl-Intellektuelle. Damit ändert sich zugleich der Status der subalternen Akteure: Defert zufolge war der Einsatz der OPP für die Gefangenen Teil "eines Plädoyers für die politischen Gefangenen. Ich glaube nicht, dass unsere Bemühung die Stimme der Häftlinge im Allgemeinen wiedergab, das ist der große Unterschied zu dem, was wir danach mit der GIP versucht haben" (Ebd., 51). In der GIP sei dabei von Bedeutung gewesen, dass "Foucault nicht an dem Einschnitt zwischen politischen Gefangenen und Strafgefangenen festhalten wollte" (Ebd., 57).


4. FOUCAULT ALS AUTONOMER

In der politischen Strategie der GIP werden als subalternes politisches Subjekt also nicht mehr nur die politischen Gefangenen, sondern Gefangene überhaupt angesprochen. Wenn in Überwachen und Strafen später die These vertreten wird, dass eine zentrale Funktion des Gefängnisses darin besteht, politische Kämpfe der Subalternen durch die "Aufrichtung der Barriere zwischen den Delinquenten und den Volksschichten" zu spalten,[11] so kann die angesprochene Erweiterung möglicher politischer Subjekte als Versuch gesehen werden, diese Trennung zu hinterfragen. Dabei geht es zunächst konkret darum, ein Wissen der Subalternen über ihre Haftbedingungen mittels von der GIP entwickelten "Fragebögen soziologischer Art" zu kollektivieren (Ebd., 55). Dies orientiert sich am "Fragebogen für Arbeiter", den Karl Marx 1880 entwickelte, einem "der ersten Beispiele der empirischen Sozialforschung" (Ebd., 50).[12] Den Fragebogen als politische Methode einzusetzen, war Defert zufolge vom italienischen Operaismus (wie der Gruppe Lotta Continua) und der mit ihm verbundenen autonomen Bewegung inspiriert, welche dies als "militante Untersuchung" bezeichneten.

Anders als das traditionelle Agitieren vor Fabriktoren oder die Strategie von 1968er-Aktivist_innen, in die Fabriken zu gehen, waren die Arbeiter_innen hier – wenn auch mit Hilfe der von den Intellektuellen verfassten Fragebögen – selbst Subjekt der Wissensproduktion. Das Ziel solcher Untersuchungen war unmittelbar politisch, im Operaismus wie in der GIP: Öffentlichkeit für reale Revolten zu schaffen oder diese sogar mit auszulösen. Für einen kurzen Moment ging die Strategie der GIP auf; Defert zufolge gab es in den französischen Gefängnissen allein zum Jahreswechsel 1971/72 "etwa dreißig Revolten" (Ebd., 67).

Eine phantasierte Einebnung der Differenz von Subalternen und den relativ privilegierten Intellektuellen – das waren auch die meisten Mitglieder der GIP – sollte dabei vermieden werden: Die Letzteren "arbeiteten nicht in der Fabrik und versuchten nicht, mit den Arbeitern zu verschmelzen" (Ebd., 60). Allerdings gab es durchaus persönliche Kontakte zu ehemaligen Gefangenen: "Wir luden uns gegenseitig zum Essen ein, man schenkte sich Wein und Rosen […]. Viele Jahre waren die meisten meiner Freunde ehemalige Häftlinge" (Ebd., S. 61). Es wäre eine interessante Frage, ob man auch diese zu ihren Perspektiven auf die Arbeit mit der GIP und ihr Verhältnis zu Defert und Foucault interviewen könnte. Denn wenn die Stimmen der Subalternen gegenüber denen der Intellektuellen privilegiert werden sollen, so müsste dies ja auch auf die historischen Zusammenhänge anwendbar sein, von denen in Ein politisches Leben als autorisierter Zeitzeuge dann doch wieder nur Defert erzählt.

Ein entscheidender Punkt in der Arbeit der GIP war, dass mit dem Subjekt der Häftlinge nicht mehr wie in der marxistischen Tradition in erster Linie Arbeiter_innen als politische Akteure angesprochen wurden. Foucault setzte sein politisches Engagement ganz in diesem Sinne im Gesundheits- und Antipsychiatriebereich sowie mit Immigrant_innen im Laufe der 1970er Jahre fort (Ebd., 77). Dies passt zu Auffassungen, die er selbst unmittelbar nach der verheerenden Entwicklung der iranischen Revolution noch vertrat: "Menschen erheben sich, das ist eine Tatsache. Auf diesem Wege gelangt die Subjektivität (nicht der großen Männer, sondern jedes beliebigen Menschen) in die Geschichte und haucht ihr Leben ein […]. Es genügt, dass sie da sind und alles sie zum Schweigen zu bringen versucht, damit es sinnvoll ist, sie anzuhören und verstehen zu wollen, was sie sagen."[13]

Der Intellektuelle als Figur, welche den Stimmen der Unterworfenen zuhört, statt sie zu repräsentieren, taucht bei Foucault immer wieder auf. Doch entwickelte er keinen Begriff der Politik, der diesem veränderten Verhältnis Ausdruck verleiht. Deferts Buch regt dazu an, nach den verstreuten Aussagen in Foucaults Schriften zu suchen, die im konkreten Kontext politischer Auseinandersetzungen implizit sehr wohl Ansätze eines solchen Politikbegriffes enthielten. Entscheidend ist dabei die Transformation des politischen Subjekts und der Figur des Intellektuellen: Wird das erstere nicht mehr auf eine bestimmte Gruppe begrenzt, sondern umfasst virtuell alle kämpfenden Subalternen, so repräsentieren Intellektuelle nicht mehr die Universalität der Befreiung, sondern versuchen, sich in jeweils spezifische Kämpfe einzubringen. Politik bedeutet aus der Perspektive der Intellektuellen dann nicht, eine theoretische Anleitung zur Befreiung zu formulieren, sondern eine spezifische Funktion innerhalb konkreter Kämpfe einzunehmen, welche ganz im Sinne Rancières bislang als unpolitisch geltende Bereiche der Gesellschaft zu politisieren und den unterdrückten Stimmen subalterner Gruppen Gehör zu verschaffen versuchen.


Russisches Häftlingstattoo: Wie können subalterne Akteure sichtbar werden? Und wer soll ihre Geschichte erzählen? (Foto von Arkady Bronnikov, Quelle: bbc.com)

5. DIE GESCHICHTSSCHREIBUNG POLITISIEREN

Eine darüber hinausgehende Frage ist, in welchem Verhältnis Foucaults theoretische Arbeiten der 1970er Jahre und seine Auffassungen über die Beziehung von Intellektuellen und Subalternen stehen. Dieses Problem ist nicht mit dem Einwand abgetan, Theorie und Praxis seien für Foucault zwei komplett getrennte Welten gewesen. Denn wenn es auch sympathisch ist, Politik nicht mittels großer Theorien anleiten zu wollen, so wäre umgekehrt doch zu diskutieren, wie die politischen Kämpfe der Subalternen Eingang in die Geschichtsschreibung finden können, um sie nicht abermals zum Schweigen zu bringen. Bei Foucault jedoch steht der aktive politische Widerstand der Subalternen zumindest in seinen größer angelegten Untersuchungen nicht im Zentrum der Untersuchung und selbst vereinzelte subversive Stimmen wie die eines 13-jährigen Delinquenten werden nur selten hörbar.[14]

Daraus resultieren weitere Fragen: Wenn aufgrund der Interviews mit Defert vermutet werden kann, dass Foucaults Arbeit etwa in Überwachen und Strafen von einer politischen Praxis inspiriert war, die in erster Linie den Stimmen subalterner Akteure Gehör verschaffen wollte, warum floss dieses Anliegen gleichwohl nicht direkt in das Buch ein? Ein möglicher Grund wäre – denkt man an postkoloniale Ansätze wie Gayatri Chakravorty Spivaks Can the Subaltern Speak? (1988) –, dass es ein prinzipielles Problem mit der Repräsentierbarkeit subalterner Stimmen gibt. Doch wenn Foucault eben ihre Forderung, solchen Stimmen gleichwohl zuzuhören, zu teilen scheint, dann wäre es ihm zumindest möglich gewesen, damit zusammenhängende Probleme beim Namen zu nennen. Foucaults Geschichten der sich stabilisierenden Machttechniken (und daraus folgend der Herrschaftsverhältnisse), die weitgehend ohne eine Geschichte der Machtkämpfe (also der Politik) auskommen, haben nicht ohne Grund in der Rezeption teilweise den Eindruck hervorgerufen, wir lebten in einer quasi totalitären panoptischen Welt.

Dass es auch anders geht, hat wenige Jahre später Jacques Rancière mit seinem Buch Die Nacht der Proletarier (1981)[15] gezeigt, in welchem er den Blick auf die unsichtbaren subalternen Akteure richtete. Quellen, die bei Foucault nur am Rande zitiert werden, wie politische Zeitschriften der frühsozialistischen Arbeiter_innenbewegung, stehen hier im Vordergrund, und dabei wird besonders den Biografien und Äußerungen der Arbeiter_innen selbst Gehör geschenkt. Auch wenn sich die Frage stellt, in welcher Relation diese Stimmen zur Narration des Theoretikers Rancière stehen, so handelt es sich doch um einen elaborierten Versuch, durch eine andere Auswahl der Quellen und eine Privilegierung der Sicht von Arbeiter_innen das Problem zu lösen, das Foucault in seiner praktisch-politischen, aber nicht in seiner theoretischen Arbeit beschäftigte. Wenn wir heute über Foucaults Schriften als Inspiration für neue Debatten und Untersuchungen reden, muss deshalb die Frage aufgeworfen werden, welcher Status dem aktiven Widerstand der Subalternen über eine Darstellung der Verstetigung von Herrschaftstechniken hinaus eingeräumt werden kann, ohne deren Analyse im Gegenzug aufzugeben.



[1] Der Begriff der Subalternität wird hier für die verschiedenen Gruppen verwendet, die Herrschaftsverhältnissen unterworfen sind und lediglich eingeschränkte Möglichkeiten haben, sich öffentlich politisch zu artikulieren (in diesem Zusammenhang besonders Häftlinge).
[2] Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1998, S. 117.
[3] Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994, S. 352.
[4] Foucault: Überwachen und Strafen, S. 368.
[5] Urs Lindner: "Alles Macht oder was?", in: PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 145.4 (2006).
[6] Jacques Rancière: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002, S. 43f.
[7] Vgl. dazu auch Marcelo Hoffman: "Foucault and the 'Lesson' of the Prisoner Support Movement", in: New Political Science: A Journal of Politics and Culture 34.1 (2012), pp. 21–36 und Thanasis Lagios: "Foucauldian Genealogy and Maoism", in: foucaultblog (5.2.2016), DOI: 10.13095/uzh.fsw.fb.130.
[8] Daniel Defert: Ein politisches Leben. Gespräch mit Philippe Artières und Éric Favereau in Zusammenarbeit mit Joséphine Gross. Berlin: Merve 2015, S. 9.
[9] Rancière: Das Unvernehmen, S. 34.
[10] Michel Foucault: "Untersuchung über die Gefängnisse: Zerbrechen wir die Gitter der Schweigens", in: Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden. Hg. v. Daniel Defert und François Ewald. Bd. II. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002, S. 215–222, hier S. 216. Zum 'spezifischen Intellektuellen' vgl. ders.: "Die politische Funktion des Intellektuellen", in: Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden. Hg. v. Daniel Defert und François Ewald. Bd. III. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S. 145–152.
[11] Foucault: Überwachen und Strafen, S. 368.
[12] Vgl. Karl Marx: Fragebogen für Arbeiter, abgerufen am 29.7.2016.
[13] Michel Foucault: "Nutzlos, sich zu erheben", in: Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden. Hg. v. Daniel Defert und François Ewald. Bd. III. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S. 987–992, hier S. 991.
[14] Foucault: Überwachen und Strafen, S. 377.
[15] Jacques Rancière: Die Nacht der Proletarier. Archive des Arbeitertraums. Wien: Turia & Kant 2013.

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