Der "Wahnsinn" und die "Freihandelszone"
Maurice Erb
April 29, 2013 DOI: 10.13095/uzh.fsw.fb.18 editorial review CC BY 4.0 |
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Foucaults "Frühwerk" scheint eindeutig um sein berühmtes Erstlingswerk über den Wahnsinn herum zentriert. Wahnsinn und Gesellschaft erzählt bekanntlich die Genealogie der Gefangenschaft des Wahnsinns und zugleich die Genealogie einer sich formierenden bürgerlichen Gesellschaft, ihrer Institutionen und Wissenschaften vom Menschen. Vieles von den späteren Genealogien und Analysen zur panoptischen Disziplinarmacht wird hier vorweggenommen, wobei der "Wahnsinn" als Inbegriff einer unmöglichen Freiheit oder Widerstandsposition gelten kann. Im Schatten von Wahnsinn und Gesellschaft entwickelte Foucault aber eine divergente und gleichsam spielerischere Auffassung des Zusammenhangs von Freiheit, Wahrheit und Macht.
Seine erst 2008 publizierte und noch eher unbekannte Einleitung zur französischen Erstübersetzung von Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht interpretiert die Frage "Was ist der Mensch?" im Kontext von Kritik und Transzendentalphilosophie. Foucault mach deutlich, dass die kantische Anthropologie kein essentielles menschliches Wesen im Sinne eines "homo natura" kennt; vielmehr ist der Mensch "Weltbürger" in einer aus Sprache gebauten Welt, über deren Synthesen oder Wahrheiten er nie souverän verfügt und in der er auch selber nie endgültig festgelegt ist. Er ist in ein endloses Spiel um Freiheit und Wahrheit eingebunden, das mit Listigkeiten, uneingestandenen Absichten, Drang nach Einflussnahme, Täuschungen usw. gespielt wird. Und indem die pragmatische Anthropologie – für Foucault die einzig wahre – den Menschen in diesem Sinn als "freihandelndes Wesen" bestimmt, "[..] eröffnet [sie] eine ganze 'Freihandels'-Zone, wo der Mensch seine Freiheiten zirkulieren lässt [..], und sich so in einen tauben und ununterbrochenen Austausch [ commerce ] an die anderen bindet [..]".[1]
Michel Foucault in den 50er-Jahren
Im "Frühwerk" sind also nicht nur viele thematische und methodische Schwerpunkte des späteren Werks angelegt, sondern es scheint auch jener umstrittene "liberal turn" schon vorbereitet, den Foucault – zur anhaltenden Verwunderung mancher Kommentatoren – Ende der siebziger Jahre in seinen am Collège de France gehaltenen Gouvernementalitäts-Vorlesungen vollzog.[3] Nach den Arbeiten zum Gefängnis und zur Disziplinarmacht hatte sich Foucault bekanntlich vermehrt der Problematik der Bevölkerungspolitik und des Regierens zugewandt, um die relevanten historischen Transformationsprozesse hin zur Moderne zu analysieren. Und während er in den Gouvernementalitäts-Vorlesungen zunächst noch betont, dass die "Freiheiten" in den klassisch-liberalen Gesellschaften vollkommen mit den Disziplinartechniken verknüpft und durch diese bedingt sind, gesteht er dennoch kurz darauf zu, sich wohl genau darin geirrt zu haben.[4] Was weiter erstaunt: Foucault verweilt in der zweiten Vorlesung bei einer mehr als ausführlichen Darstellung des Neo-Liberalismus und spricht überhaupt nicht mehr wie angekündigt von Biopolitik oder Bio-Macht. Das eigentlich Überraschende ist aber die affirmative Haltung, die in seiner Analyse der deutschen und amerikanischen Schulen des Neo- bzw. Ordo-Liberalismus zum Vorscheint kommt: sowohl der Ordo-Liberalismus der Freiburger Schule, der die Garantie des freien Wirtschaftlebens zur prinzipiellen Legitimationsgrundlage des deutschen Nachkriegsstaates erhob, wie auch der noch radikalere amerikanische Neo-Liberalismus mit seiner Tendenz zur Erfassung aller möglicher Lebensbereiche in ökonomischen Begriffen entwickeln laut Foucault eine neuartige Regierungskunst, die zugleich immer auch Kritik des Regierens oder der Macht ist (nach dem Grundsatz, dass immer schon zu viel regiert wird).
Die neo-liberale Gouvernementalität bestimmt die Regierungstätigkeit in Relation zu den sich in der Bevölkerung abspielenden wirtschaftlichen Prozessen, die durch ihre Komplexität und "Blindheit" eine opake Zone für alle Planungen und Interventionen der Macht bilden; das Regieren hat dementsprechend auch weniger mit Individuen oder Menschen, sondern mit dem Spiel von Interessen zu tun, das sich allenfalls indirekt über die Spielregeln beeinflussen oder mittels der abstrakten Figur des homo oeconomicus analysieren lässt. Und wenn diese Regierungstechnik realiter auch mit disziplinarischen Elementen vermischt operiert, so ist sie doch etwas von der Disziplinarmacht (und auch vom klassischen Liberalismus) grundsätzlich Verschiedenes, denn "[d]er Neoliberalismus ist nicht Adam Smith, nicht die Handelsgesellschaft, nicht der Gulag im heimtückischen Massstab des Kapitalismus"[6] – was Foucault nicht zuletzt mit der ökonomistischen Verbrechenstheorie Gary Beckers auf den Punkt bringt, die gleichsam hinter Bentham zurückgeht, indem sie den panoptischen Kontrollanspruch aus Kostengründen aufgibt.[6]
Ist nun aber diese "Wende" Foucaults, die ausserdem mit seinem einzigen Abstecher in die Zeitgeschichte während der Vorlesungstätigkeit am Collège de France zusammenfällt, wirklich so überraschend? Und setzt nicht vielmehr seine Analyse der neo-liberalen Gouvernementalität die Entlarvung einer panoptisch-ubiquitären Macht fort, deren Effekt oder perfides Kalkül diese vermeintliche "Freiheit des Spiels" wäre? Beides muss wohl mit genauem Blick auf das "Frühwerk" verneint werden.
[1] Introduction à l'Anthropologie. In: Defert, D., Ewald, Fr. Gros, F. (Hg.). E. Kant. Anthropologie d'un point de vue pragmatique. Paris 2008. S. 11-79; hier: S. 27.
[2] vgl. Droit, Roger-Pol. Michel Foucault: Entretiens. Paris 2004.S. 127 und Was ist Aufklärung?, In: Defert, D., Ewald, F., Lagrange, J. (Hg.). Michel Foucault. Schriften in vier Bänden (Dits et Ecrits), Bd. IV: 1980-1988, Frankfurt a. M. 2005, S. 687-707.
[3] vgl. hierzu und im Folgenden: Sarasin, Philipp. Unternehmer seiner Selbst. Rezension von: Michel Foucault: Geschichte der Gouvernementalität, Bd. 1 und 2 (Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 55/3, 2007). S. 473-493.
[4] Sicherheit, Territorium, Bevölkerung (Geschichte der Gouvernementalität I). Vorlesung am Collège de France 1977-1978. Frankfurt a. M. 2004. S. 78.
[5] Die Geburt der Biopolitik (Geschichte der Gouvernementalität II). Vorlesung am Collège de France 1978-1979. Frankfurt a. M. 2004. S. 187.
[6] l.c. S. 346f.