Foucault und die Frage des Politischen: Eine Bestandsaufnahme
Ralph Schwarzenbacher
September 30, 2019 DOI: 10.13095/uzh.fsw.fb.240 editorial review CC BY 4.0 |
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"Foucault insults the police", photograph by Elie Kagan from January 17, 1972, source: https://progressivegeographies.com/2015/03/25/foucault-insults-the-police-photo-from-1972/
1. DIE POLITIK UND DAS POLITISCHE ↑
In Zeiten einer um sich greifenden Prekarisierung breiter Bevölkerungsschichten, eines Erstarkens identitärer und autoritärer Politik und einer desorientierten und diskriminierenden Asylpolitik sieht sich die politische Theorie und Philosophie mit dem Anspruch konfrontiert, diesen aktuellen Problemstellungen auf konstruktive Art und Weise zu begegnen. Dezidiert stellt sich diesem Anspruch der zu Beginn des Jahres von Oliver Marchart und Renate Martinsen herausgegebene Sammelband Foucault und das Politische.[1] Dabei versammelt der Band, wie die Herausgeberin und der Herausgeber in der Einleitung anmerken, im Sinne einer "Bestandsaufnahme zum Spektrum der aktuellen Arbeiten mit und zu Foucault in der Politischen Theorie" (S. 3) ausgewählte Beiträge, die auf eine Tagung zurückgehen, die 2016 anlässlich des neunzigsten Geburtstags von Foucault in Wien stattfand.
Wie bereits der Titel des Sammelbandes verrät, werden hierbei Foucaults Arbeiten im Diskussionsfeld des Politischen verortet, dessen Bedeutungshorizont über den des klassischen Politik-Begriffs hinausweist. Diese als politische Differenz bekannt gewordene Unterscheidung zwischen der Politik und dem Politischen verbindet man auf den ersten Blick eher mit anderen namhaften Theoretiker/innen. So wird diese Differenzierung beispielsweise von Paul Ricœur, Claude Lefort, Jean-Luc Nancy, Jaques Rancière, Alain Badiou, Giorgio Agamben, Ernesto Laclau oder Chantal Mouffe prominent vertreten.[2] Foucault als einen Theoretiker des Politischen zu betrachten, wie es von den Herausgeber/innen vorgeschlagen wird, lässt so eine neue und gewinnbringende Perspektive auf dessen Denken entstehen. Verbindet man den Begriff der Politik im engeren Sinne mit dem Staat, Parteienpolitik, Institutionen oder mit verschiedenen politischen Systemen, so ist ein "erweiterter Begriff des Politischen geeignet, auch die Politizität von Entscheidungs- und Machtverhältnissen oder von Subjektivierungsweisen hervorzuheben, die sich einem verengten politikwissenschaftlichen Blick entziehen würden" (S. 2), wie Marchart und Martinsen geltend machen. Gerade Foucaults Arbeiten zum Verhältnis von Macht und Wissen, die heute in Zeiten sogenannter postfaktischer Politik besonders stark an Brisanz gewinnen, wie auch seine Überlegungen zu Formen der Kritik und des Widerstands, die im Sammelband ausführlich diskutiert werden, könnten im Rahmen eines allzu eng gefassten Verständnisses von Politiktheorie wohl nur schwerlich ihr volles Potenzial entfalten.
Foucault in diesem Sinne als einen Denker des Politischen zu sehen, scheint auch mit dem eigenen Verständnis seiner Theoriearbeit durchwegs vereinbar zu sein. Auch wenn er "der terminologischen Unterscheidung zwischen Politik und dem Politischen gegenüber skeptisch blieb" (S. 2), merkte Foucault bereits in Der Wille zum Wissen kritisch an, dass im "politischen Denken und in der politischen Analyse […] der Kopf des Königs noch immer nicht gerollt" ist.[3] Foucault wies an dieser Stelle darauf hin, dass es deutlich zu kurz greift, Fragen der Macht und der Herrschaft ausschließlich in "klassischen" Kategorien des Juridischen und der Souveränität zu erörtern, womit er auch selbst für einen erweiterten Begriff von Politik plädierte, der durchaus im Sinne eines Denkens des Politischen gelesen werden kann. Auch Martin Saar hält fest, dass ein dergestalt erweiterter Begriff des Politischen, wie man ihn bei Foucault findet, unerlässlich ist, "um nicht nur ausschließlich die Oberflächenphänomene des Politischen, nämlich die Macht der staatlichen Institutionen zu fassen zu bekommen".[4] In diesem Diskussionsfeld also werden die insgesamt sechzehn Beiträge des umfangreichen Bandes situiert.
Zu würdigen ist auch der selbstkritische und selbstreflexive Gestus, der in der – wenn auch mit knapp fünf Seiten etwas schmal geratenen – Einleitung der Herausgeber/innen hervorgehoben wird. Denn da Theoriebildung nicht in gleichsam ahistorischem und neutralem Raum, sondern immer schon in geschichtlich, gesellschaftlich und somit auch politisch geprägten Rahmenbedingungen stattfindet, hat sie selbst Anteil am Politischen, durch ihre politische Bedingtheit ebenso wie durch ihren Anteil an der Produktion von politischen Annahmen und Bedeutungen:
Politische Theorien sind solchermaßen selbst ein Mittel, um Sinn und Bedeutung in der politischen Welt zu produzieren – und zwar zu gewissen Zeiten und in gewissen Praxisfeldern immer wieder anders. Eine Reaktualisierung des foucaultschen Forschungsansatzes trägt in diesem Sinne dazu bei, die politische Theorie zu sensibilisieren für die umkämpften und sinnstiftenden Annahmen, die in ihre eigenen Begrifflichkeiten und Definitionen politischen Handelns eingelagert sind. (S. 5)
Foucaults zentraler Ansatz, die Verwobenheit von Wissens- und Machtbeziehungen in immer neuen Anläufen kritisch zu befragen und dabei deren politische Implikationen herauszuarbeiten, wird in den Beiträgen des Bandes produktiv ins Werk gesetzt. Die politische Theorie positioniert sich hier also nicht als vermeintlich unbeteiligter Beobachter des Politischen, sondern stellt ihre aktive Rolle in "dem Spiel, das man die Politik der Wahrheit nennen könnte"[5], explizit in Rechnung.
Dies leitet sogleich zur Gliederung des Bandes und zu den einzelnen Aufsätzen über. Diese sind auf die drei Teilabschnitte "Theorie", "Vergleich" und "Problematisierung" verteilt, wobei der erste Teilabschnitt einer ausgedehnten Reflexion und kritischen Inblicknahme von Grundbegriffen der politischen Theorie gewidmet ist. Da hier nicht alle sechzehn Aufsätze im Detail diskutiert werden können, soll im Folgenden ein knapper Überblick über die versammelten Texte gegeben werden, wobei pro Teilabschnitt ein für diesen repräsentativer und besonders eindrücklicher Beitrag etwas genauer in seinen Grundlinien nachgezeichnet wird.
Wie bereits erwähnt, macht es sich der erste Teilabschnitt "Theorie" zur Aufgabe, im Ausgang von Foucault die Grundlagen der politischen Theorie zu reflektieren, wobei vorrangig der Begriff der Kritik in jeweils verschiedener Perspektivierung zur Debatte gestellt wird. So erörtert Philipp Sarasin in seinem Beitrag, wie in Foucaults Denken ab den späten 1970er Jahren Überlegungen zur Freiheit und Autonomie des Subjekts einen immer zentraleren Stellenwert erlangten.[6] Thomas Lemke thematisiert Foucaults Begriff der Erfahrung und arbeitet dessen Bedeutung für verschiedene Dimensionen des Foucault'schen Verständnisses von Kritik heraus, um dieses für "alternative Formen von Rechten und andere Modi der Subjektivierung jenseits des juridischen Horizonts" (S. 44) fruchtbar zu machen. Karsten Schubert macht sich eine kritische Rekonstruktion verschiedener Interpretationsweisen zur Freiheitsdebatte bei Foucault zur Aufgabe, um diese vor dem Hintergrund von Subjektivierungsformen durch demokratische Institutionen näher zu beleuchten, während Andreas Folkers' Aufsatz Foucaults Genealogie der Kritik in seinen späten Vorlesungen und Vorträgen nachgeht, um dabei zu zeigen, wie dessen Begriff der Kritik nach und nach affirmativere Züge gewinnt, die ein Denken des Politischen wie auch eine kritische Reflexion von Formen der Kritik selbst bereichern können.
Die Philosophin Anna Wieder, die sich in ihrem Text mit dem Titel "Kritik, Widerstand und die Erben des Kynismus: Wahrsprechen und politische Praxis beim späten Foucault" ebenso auf Foucaults Spätwerk fokussiert, nimmt dessen Überlegungen zur antiken parrhesia (griech. "alles sagen") auf, um sie im Kontext widerständiger und kritischer politischer Praktiken der Gegenwart zu analysieren. Das Wahrsprechen als eine ethische Selbstpraxis der Subjektivierung, bei der "das sprechende Subjekt eine persönliche Beziehung zur Wahrheit etabliert, sich an diese bindet und sich mutig den Gefahren aussetzt, die mit dem Aussprechen dieser Wahrheit verbunden sind" (S. 68f.), hat seinen genuinen Ort in der demokratischen Öffentlichkeit und somit im Bereich des Politischen. Über Foucaults Auseinandersetzung mit der antiken Lebensform des Kynikers wird die parrhesia von Wieder näherhin als ein Wahrsprechen spezifiziert, "das darauf abzielt, gerade durch eine spezifische sprachliche und körperliche Praxis sowie die Zurschaustellung einer anderen Lebensform gegebene Normen infrage zu stellen" (S. 75). Dieses kritische Potenzial der kynischen parrhesia macht Wieder auf luzide Weise im Sinne eines "kynischen Erbes" für die Analyse von Formen gegenwärtiger politischer Artikulation lesbar. Die Praxis der "präfigurativen Politik", ein Begriff, der unter anderem zur Beschreibung von zeitnahen Entwicklungen wie den Occupy-Protesten oder dem Arabischen Frühling Verwendung findet, lässt sich – so Wieder – als Ausdruck dieses kynischen Erbes deuten:
"Präfiguration" meint vor diesem Hintergrund, Protest und Widerstand so zu gestalten und zu artikulieren, dass sie bereits im Hier und Jetzt, in den eigenen politischen Handlungen die antizipierte und geforderte Zukunft – d.h. etwa jene Formen sozialer Ordnung, jene Strukturen von Entscheidungsfindung, jene Arten und Weisen des menschlichen Zusammenlebens – vorzeichnen und dabei experimentell ins Werk setzen. (S. 80)
Abgerundet wird Anna Wieders Text durch einen kritischen Verweis darauf, dass derartige Praktiken immer auch mit gewisser Vorsicht zu genießen sind. Denn neben den produktiven Aspekten dieser Formen des Aktivismus gilt es auch hervorzuheben, dass "zum Zweck der Einrichtung einer anderen Welt und eines anderen Lebens […] beinahe täglich terroristische Anschläge verübt" (S. 80) werden.
Dem ersten Teilabschnitt des Sammelbandes folgt der Abschnitt "Vergleich", in dem Anschlussmöglichkeiten, Zusammenhänge und Kontrastlinien zwischen Foucault und anderen Autor/innen ausgelotet und vertieft werden. Kerstin Andermann untersucht Foucaults Konzeption von Macht aus einem begriffsgeschichtlichen Blickwinkel auf ihre metaphysischen Spuren hin, die sie dabei über das Machtdenken von Aristoteles, Spinoza und Nietzsche bis zu Gilles Deleuze führen. Alexander Struwe setzt Foucaults Arbeit an gesellschaftstheoretischen Fragen mit der marxistischen Theorie und Louis Althusser in Verbindung, um aktuelle Fragestellungen der Gesellschaftstheorie und die Frage nach der Kontingenz gesellschaftlicher Ordnungen zu erörtern. Katharina Hoppe versucht in ihrem Beitrag eine Antwort auf die aktuellen Debatten über das "postfaktische Zeitalter" zu geben, in dem sie verschiedene Modi der politischen Bezugnahme auf Wahrheit mit Foucault und Donna Haraway diskutiert. Daniel Wittes Aufsatz geht den theoretischen Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Foucault, Norbert Elias und Pierre Bourdieu nach, um sie in Bezug auf historische Prozesse der Staatenbildung und -umbildung sowie auf politische Transformationen von Formen der Subjektivierung wechselseitig fruchtbar zu machen. Der Beitrag Hagen Schölzels thematisiert Foucault als einen Theoretiker der politischen Differenz, um anschließend Foucaults Rede von historischen Ontologien mit Gilles Deleuze und Ian Hacking zu erörtern, was Schölzel zur Debatte um politische Ontologie(n) im Singular wie auch im Plural führt.
Der Beitrag aus diesem Teilabschnitt, der etwas näher vorgestellt werden soll, ist der Text "Sprachen des Widerstands: Zur Normativität politischer Artikulation bei Foucault und Rancière" von Gerald Posselt und Sergej Seitz. Die beiden Autoren greifen als Ausgangspunkt die auch schon bei Anna Wieder kritisch angeführte Zweischneidigkeit bestimmter Praktiken politischer Artikulation auf. Es sei gegenwärtig zu beobachten, so die einleitende Diagnose des Textes, dass sich rechtsextreme und rechtspopulistische Akteur/innen des politischen Feldes Strategien aneignen, die man eher mit linken Positionen in Verbindung bringe:
Charakteristisch sind dabei u.a. Praktiken der Umdeutung und Aneignung grundlegender liberaler demokratischer Werte wie Toleranz, Freiheit und Pluralismus, das gezielte Brechen von Tabus mit Verweis auf eine vermeintlich allgegenwärtige political correctness, das Verschieben und Erweitern der Grenzen des Sagbaren, die Infragestellung legitimer Sprecher_innenpositionen im öffentlichen Raum (Stichwort "Lügenpresse") oder die wiederholte Behauptung, selbst von einer ausgeschlossenen Position aus zu sprechen. (S. 188)
Um solche Strategien, wie sie unter anderem von der Freiheitlichen Partei Österreich (FPÖ), der Alternative für Deutschland (AfD), der "Identitären Bewegung" oder vom französischen Rassemblement National (ehemals Front National) eingesetzt werden, zu analysieren, gehen Posselt und Seitz auf Foucaults Überlegungen zur parrhesia und Rancières Konzeption des Unvernehmens zurück, um aus der kritischen Ergänzung dieser beiden Denker Kriterien für die Beurteilung politischen Sprechens zu gewinnen. Mit Rancières Konzept des Unvernehmens, das sich nicht auf einen bestimmten Inhalt einer Aussage oder auf die Form einer Äußerung bezieht, sondern das "die grundsätzliche Möglichkeit, als ein sprechendes Wesen allererst in Erscheinung treten zu können und als solches Intelligibilität und Anerkennbarkeit zu erlangen" (S. 190) betrifft, wird ein formales Prinzip der Gleichheit herausgearbeitet, das zwar für emanzipatorisches politisches Handeln grundlegend ist, jedoch "von sich aus kein Kriterium bereitzustellen scheint, um zwischen unterschiedlichen politischen Ansprüchen zu differenzieren" (S. 194), wie die beiden Autoren ausführen.
Um dieses Moment der Gleichheit durch ein Moment der Freiheit zu ergänzen, werden Foucaults Analysen zur parrhesia hinzugezogen. Denn die Sprecher/innen, die in der parrhesia mutig die Freiheit in Anspruch nehmen, die Wahrheit zu sagen, vollziehen diese Geste immer im Angesicht von Adressat/innen, denen gegenüber die Wahrheit geäußert wird und bei denen sie eine Wirkung hervorruft, die auch verletzend oder empörend sein kann. Hierbei tritt für Posselt und Seitz ein ethischer Aspekt der "Freiheit der Rede im Angesicht des Anderen" (S. 202) zutage, der das politische Moment der Gleichheit bei Rancière produktiv ergänzt.
Wenn etwa im Kontext der europäischen Flüchtlingskrise rechtspopulistische Parteien und deren Repräsentant_innen sich als jene inszenieren, die mutig das Wort ergreifen und die herrschenden "Eliten" sowie die sogenannte "Lügenpresse" mit der "Wahrheit" konfrontieren, indem sie für die rigorose Schließung der Grenzen und die "Festung Europa" plädieren, dann wenden sie sich – mit Rancière gesprochen – nicht nur gegen das formale Prinzip der Gleichheit (während sie diese Gleichheit im Sinne eines gleichen Rechts auf Redefreiheit für sich selbst in Anspruch nehmen). Vielmehr zielen sie auch darauf ab, die konstitutive Abhängigkeit und Verletzbarkeit unter Rückgriff auf das Grundphantasma ungebrochener Souveränität und Identität zu eliminieren. (S. 204f.)
Posselt und Seitz kommen so auf die zu Beginn ihres Textes formulierte These zurück, der zufolge jede Beurteilung von widerständigen Redepraktiken die politische und ethische Dimension der Rede berücksichtigen muss. Die im Aufsatz herausgearbeiteten Kriterien sollen nun dazu dienen, Formen politischen Sprechens zu analysieren sowie zu bewerten, ob sie diesen beiden Dimension der Rede Rechnung tragen oder ob sie dies nur vermeintlich beanspruchen, um die Möglichkeit emanzipatorischer politischer Artikulation strategisch zu unterwandern.
Der dritte, mit "Problematisierung" überschriebene Abschnitt des Sammelbandes, der nun abschließend präsentiert werden soll, nimmt sich vor, das breite Spektrum der mit Foucault zu bearbeitenden Themenfelder in der politischen und politiktheoretischen Landschaft zu beleuchten. Der Beitrag von Matthias Bohlender will durch eine an Foucault orientierte genealogische Vorgehensweise neue Perspektiven auf das Kommunistische Manifest von Karl Marx und Friedrich Engels eröffnen. Christian Haddad greift Foucaults Arbeiten zur Biopolitik auf, um die politische Dimension von Innovationsprozessen anhand des Feldes der regenerativen Medizin und Stammzellenforschung zu thematisieren. Jan Christoph Suntrup reflektiert Foucaults späte Vorlesungen zur parrhesia, erörtert deren demokratietheoretischen Gehalt und bezieht sie exemplarisch auf das Engagement Émile Zolas in der Dreyfus-Affäre, während Clemens Reichhold in seinem Aufsatz Foucaults Verhältnis zu den politischen Auseinandersetzungen der 1970er Jahre und den damit einhergehenden Implikationen für seine Analysen des Neoliberalismus zum Thema macht.
Der Beitrag dieses dritten Abschnitts, dem ich einen etwas ausführlicheren Bericht zuteilwerden lassen möchte, ist der Text von Mareike Gebhardt. In ihrem Aufsatz mit dem Titel "'Pest' und 'Lepra': Mechanismen der Un/Sichtbarkeit in der europäischen Asylpolitik" bezieht Gebhardt Foucaults in Überwachen und Strafen[7] durchgeführte Analyse der sozialmedizinischen Bekämpfungsstrategien gegen die Pest und Lepra im 17. Jahrhundert auf die im heutigen Asylregime der Europäischen Union wirksamen Ordnungsprinzipien. So wurden in Zeiten von Pestepidemien Techniken der Parzellierung sowie der exakt überprüfbaren Ein- und Ausschließung der Bevölkerung installiert, die es zum Ziel hatten, jedes erkrankte wie auch gesunde Individuum genauestens zu erfassen. So konnte die Gesamtentwicklung der Krankheit im Auge behalten werden, und es war ebenso möglich, die Gefahren durch Neuansteckungen zu minimieren und erkrankte Individuen auszusortieren. "Der Kampf gegen die Pest folgt also einem Disziplinar- und Machtapparat, der verschiedene Logiken des Ein- und Ausschlusses miteinander verzahnt und die erkrankte Stadt unter das Regime genauester Protokollierung und Identifikation stellt." (S. 313)
Bezüglich der Lepra kam es dagegen zu einer grundsätzlichen Ausschließung und Verbannung der Erkrankten aus der Gesellschaft, um die übrige Bevölkerung vor einer Ansteckung zu schützen. "Sobald die Erkrankten identifiziert sind, werden sie vor die Mauern der Stadt gebracht und in den Leprosorien ihrem Schicksal überlassen." (S. 315) Über diese Rekapitulation von Foucaults Ausführungen gelangt Gebhardt zu ihrer These, dass die herausgearbeiteten Mechanismen der Ein- und Ausschließung im Kontext der EU-Asylpolitik in neuem Gewande zur Anwendung kommen. Flüchtende Menschen sind, so die Autorin, in Erstaufnahmezentren, Unterkünften und Rückführungszentren einem paradoxen Wechselspiel von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit ausgesetzt, das sie einerseits in eine Position der totalen Überwachung und Registrierung versetzt, sie aber im gleichen Zuge aus allen Formen des öffentlichen Lebens ausschließt und so jegliche Partizipation an der gesellschaftlich-politischen Sphäre unterbindet:
Dieses Regime folgt wiederum einer Ökonomie der Un/Sichtbarkeit, da es Mechanismen zur Anwendung bringt, die Personen, Gruppen und deren Identitäten in einer paradoxen Spannung zwischen An- und Abwesenheit hält: zwischen Sehen und Hören bzw. Gesehen- und Gehörtwerden einerseits sowie Sprachlosigkeit und Invisibilität andererseits. (S. 310)
Wie abschließend von der Autorin festgehalten wird, erschöpft sich das mit Foucault erarbeitete Analyseraster an diesem Punkt. Die weiterführende Aufgabe ist es, so Gebhardt, das radikaldemokratische Potenzial eines solchen vermeintlichen Ausnahmezustands auszuarbeiten, um dadurch Geflüchtete und Asylsuchende nicht innerhalb einer Viktimisierungslogik und Passivität zu halten, sondern die Möglichkeiten politischen Handelns zu forcieren und auszuweiten.
Im Sinne eines Gesamtresümees lässt sich durchaus sagen, dass der Sammelband dem an sich gestellten Anspruch gerecht wird und er sich seine Aktualität und Gegenwartsbezogenheit nicht bloß zur Zierde in den Untertitel schreibt. Die Beiträge der Autor/innen aus den Bereichen der politischen Theorie, der Philosophie sowie der Sozial-, Kultur- und Geschichtswissenschaften reflektieren Foucaults Werk auf hohem Niveau und beziehen es dabei konstruktiv auf diverse aktuelle Problemfelder und Diskussionszusammenhänge der politischen Theoriebildung wie auch auf konkrete Fragestellungen des politischen Zusammenlebens. Ebenso wird kritisch auf Grenzen der Foucault'schen Konzepte hingewiesen sowie auf weiterführende Verbindungslinien in Bezug auf andere Theoretiker/innen aufmerksam gemacht. Auch wenn sich monieren lässt, dass der Band in seiner Grundlinie doch recht stark Foucaults Überlegungen zu Kritik und parrhesia ins Zentrum rückt, wodurch sich andere Aspekte seines Denkens nicht in dieser Dichte thematisiert finden, bleibt der Band dennoch ausgewogen und führt eingängig und nachvollziehbar in den weiteren Theoriehorizont von und in den aktuellen Forschungsstand zu Foucault ein.
[1] Oliver Marchart u. Renate Martinsen (Hg.): Foucault und das Politische: Transdisziplinäre Impulse für die politische Theorie der Gegenwart, Wiesbaden: Springer 2019, DOI: 10.1007/978-3-658-22789-0. Im Folgenden durch Angabe der Seitenzahl in Klammern im Fließtext zitiert.
[2] Vgl. hierzu die einschlägige Monographie von Oliver Marchart: Die politische Differenz: Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben, Berlin: Suhrkamp 2010.
[3] Michel Foucault: Der Wille zum Wissen: Sexualität und Wahrheit 1, übers. v. Ulrich Raulff u. Walter Seitter, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977 [frz. 1976], S. 90.
[4] Martin Saar: Genealogie als Kritik: Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault, Frankfurt a. M.: Campus 2007, S. 227.
[5] Michel Foucault: Was ist Kritik?, übers. v. Walter Seitter, Berlin: Merve 1992 [frz.1978/1990], S. 15.
[6] Dieser Beitrag von Philipp Sarasin ist die leicht überarbeitete Version eines Artikels, der bereits in Le foucaldien erschienen ist: "Foucaults Wende", in: Le foucaldien, 3/1 (2017), DOI: 10.16995/lefou.27.
[7] Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, übers. v. Walter Seitter, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1976 [frz. 1975].