Maurice Erb
April 27, 2023 DOI: 10.13095/uzh.fsw.fb.293 editorial review CC BY 4.0 bilingual |
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Vermutlich wäre etwas zu gewinnen, diese Einsichten zur Abwechslung einmal auf Michel Foucault anzuwenden, den gegenwärtig meistzitierten Theoretiker der Geisteswissenschaften und eine eminente Referenz ihrer methodologischen Betriebsamkeit.
1. ZWEIFEL ÜBER ZWEIFEL ↓
2. DER UNWIDERSTEHLICHE REIZ DER "THEORIE" ↓
3. APPARATE UND DISKURSE – EIN LEBENSLAUF ↓
4. DER BERG UND DIE MAUS ↓
Eine Suche nach Foucault's wesentlichem Gedanken führt nicht zu verborgenen Winkeln in seiner Hinterlassenschaft, sondern direkt zu jenen bekannten Passagen über René Descartes in seiner ersten grossen Publikation Wahnsinn und Gesellschaft. Die eigenwillige Analyse von Descartes' methodischem Zweifel findet sich eingebettet in eine historische Untersuchung zur Bedeutung des "Wahnsinns" in der abendländischen – oder vor allem französischen – Gesellschaft und Kultur seit dem späten Mittelalter. Konnten sich die Wahnsinnigen im Mittelalter noch einigermassen frei als halbwegs akzeptierte und quasi-sakrale Randfiguren bewegen, fallen sie laut Foucault im frühen 17. Jahrhundert dem "Gewaltstreich" einer grossen Einsperrung zum Opfer. Ursächlich dafür sollen neue Sensibilitäten einer entstehenden bürgerlichen Kultur gewesen sein, die im öffentlichen Raum keine unproduktiven oder unvernünftigen Lebensweisen mehr duldete. Vor allem die leerstehenden Leprosorien ausserhalb der Stadtmauern und absolutistische Verhaftungspraktiken erwiesen sich – umfunktioniert und kombiniert – als effiziente Instrumente der Internierung, und schon bald waren die Wahnsinnigen komplett aus der Gesellschaft ausgeschlossen: Der Wahnsinn verschwand gleichsam aus dem geregelten Leben und verlor seine subversive Wirkung auf die Vernunft. Descartes erwägt in seinen Meditationen nun auch die Möglichkeit, dass er wahnsinnig sei, bevor er die ganze Wirklichkeit als Illusion eines malin génie infrage stellt, um sich schliesslich seiner unbezweifelbaren Existenz als denkendes Subjekt zu vergewissern. Im Verhältnis zum reinen Gedankenspiel einer dämonischen Täuschung scheint er dabei die konkrete Frage, ob er vielleicht selbst zu den Wahnsinnigen zählt, eher beiläufig und abfällig zu behandeln. Damit wiederholt Descartes laut Foucault bloss jene zeitgenössische Einsperrungsgeste, die den Wahnsinn aus der Welt der Vernunft ausschliesst. Der radikal zweifelnde Denker geht also mit den Wahnsinnigen, die seine Vernunft infrage stellen könnten, auf ziemlich konventionelle und unreflektierte Weise um. Ihm scheint diese Routine jedenfalls nicht bewusst zu sein, obschon sie in den Mustern seiner Argumentation – wenigstens aus gegenwärtiger Perspektive – so offensichtlich zutage liegt.
Ganz offensichtlich ist auch, wie diese Interpretation der cartesischen Meditation das Wesentliche von Foucaults späterer Theoriebildung vorwegnimmt – quasi in einem Knäuel eingewickelt findet man hier: die Idee von Mustern und Serien im Gesagten oder Geschriebenen, die dem Denken oder dem Sagbaren irgendwie "transzendental" zugrunde liegen, von einer Diskursanalyse aber in ihrer "Positivität", das heisst als unmittelbar vorhandene patterns, festgestellt werden können; die Vorstellung, dass heterogene Ensembles von Praktiken und Einrichtungen als Dispositive funktionieren, die den soziokulturellen Raum mehr als bloss im oberflächlichen Sinn organisieren; das Postulat, dass die Macht, welche über Diskurse und Dispositive ausgeübt wird, nicht "von oben" kommt, kein Zentrum hat, sondern vielmehr überall ist, weil sie nolens volens von allen Akteuren ständig ausgeübt wird; eng damit verbunden die Sichtweise, dass historische Prozesse kein Subjekt haben und auch nicht kontinuierlich verlaufen, sondern in ihrer Verworrenheit und mit ihren Brüchen genealogisch zu untersuchen und in kritischer Volte gegen sinnstiftende Narrative neu zu erzählen sind; schliesslich ein als Selbst verstandenes Subjekt, dessen Autonomie und Möglichkeit zum Wahrsprechen bestenfalls prekär ist, weil es sich stets in eine Gouvernementalität oder Regierungsweise eingebunden findet, die untergründig auch sein Verhältnis zu sich selbst, seine Selbstsorge, anleitet.
Es ist gewiss legitim, die Voraussetzungslosigkeit von Descartes' Zweifel anzuzweifeln. Schliesslich gilt es kritisch zu sein, und die Behauptung, die cartesischen Meditationen seien aus der Zeit gefallen oder vermittelten ausschliesslich axiomatische Wahrheiten, ist jedenfalls einfacher zu kritisieren als aufrecht zu erhalten. Sobald aber die Kritik selber den Anspruch formuliert, Wahrheiten festzustellen, die als historische Konfigurationen den philosophischen Gewissheiten nicht nur unbewusst vorausliegen, sondern diese quasi als Bedeutungseffekte erzeugen, kehrt sich die Beweislast um. Denn Descartes ist für Foucault nicht bloss Kind seiner Zeit, weil seine Philosophie eben auch, zu einem gewissen Grad oder irgendwie von einem historischen Kontext geprägt wäre; vielmehr ist der Text seiner Meditationen auf viel präzisere und fundamentalere Art als Teil einer soziokulturellen Ordnung zu analysieren, die das Denkbare, oder wenigstens das Sagbare, für eine bestimmte Zeit determiniert. Foucault will diesem Anspruch mit einer innovativen Methode gerecht werden, die er später in der Archäologie des Wissens, seiner Methodenschrift, expliziter ausformuliert. Deren schwer zugängliche Argumentation läuft in der Hauptsache auf die Ablehnung eines konventionellen, interpretierenden Verstehens historischer Dokumente hinaus; statt dessen sollen im Archivmaterial die schon erwähnten Muster oder patterns ausfindig gemacht werden, die zwar an der Oberfläche liegen, zugleich aber den interpretierbaren Sinn aus einer hermeneutisch nicht zugänglichen Tiefe heraus organisieren.
Von einer solchen "Archäologie", verstanden als Methode im eigentlichen Sinn, wäre nun zu erwarten, dass sie ihren Gegenstand bestimmt und das Verfahren erläutert, um möglichst sicheres Wissen darüber zu gewinnen. Schon eine elementare Identifikation der "Aussagen" als "Atome" oder "Ereignisse im Feld des Diskurses", deren "System der Streuung" schliesslich eine "diskursive Formation" beschreiben sollen, bereitet indes erhebliches Kopfzerbrechen – ganz zu schweigen vom Nachweis, wie eine derart aus Aussagen formierte "diskursive Praxis" zugleich die Bedeutungsbeziehungen der Gegenstände und Positionen der Subjekte strukturiert oder sich zu den "nicht-diskursiven Praktiken" verhält. Die abstrakte methodische Terminologie versuchsweise auf den konkreten, anschaulichen Fall angewendet, wäre also zu fragen: Handelt es sich um eine Aussage innerhalb einer Formation, wenn sich Descartes im Zweifel an seiner sinnlichen Wahrnehmung zunächst von "diesen Verrückten" abgrenzt, die meinen, sie seien Kürbisse oder aus Glas gemacht, um gleich danach die Ununterscheidbarkeit von Wirklichkeit und Traum zu erwägen, worin man bisweilen noch Unglaublicheres erlebe als "jene" im Wachen? Inwiefern ist Descartes Argumentation darin "isomorph" mit oder – einfacher gesagt – eine bedeutungsgleiche Wiederholung jener "grossen Einsperrung", mit der damals die Wahnsinnigen als Randständige aus der Gesellschaft entfernt worden waren? Wie ist es zu verstehen, dass sich eine solche Wiederholung in der philosophischen Meditation gleichsam von selbst oder jedenfalls ohne die Intention des Autors vollzieht? Und was für ein Gewicht hat überhaupt diese Abgrenzung von den Wahnsinnigen für Descartes' Argument? Unbesehen der Einwände seitens der empirischen Forschung, welche das Vorkommen einer "grossen Einsperrung" im 17. Jahrhundert überhaupt bestreitet, müsste man hypothetisch annehmen, dass Descartes ein paar Jahrzehnte früher nicht so leichtfertig mit den Wahnsinnigen umgesprungen wäre; er hätte einem Wahnsinn gegenübertreten müssen, der als randständiger Teil der Gesellschaft Alltag war und dessen subversives Charisma ihn daran gehindert hätte, in einem durch Zweifel reduzierten rationalen cogito den sicheren Kern seiner Existenz zu finden. Zwischen diesem kontrafaktischen und dem faktischen Descartes gäbe es mithin in wesentlichen Punkten keine Verständigung, weil sie in zwei einander grundlegend fremden Welten lebten, deren jeweilige Verfasstheit von der gängigen Geschichtsschreibung ebenso übersehen würde wie das sie trennende Ereignis jener "grossen Einsperrung".
2. DER UNWIDERSTEHLICHE REIZ DER "THEORIE" ↑
Überwindung der Hermeneutik durch eine positivistische, das heisst auf die Feststellung des Gegebenen beschränkte Analyse von Mustern und Regelmässigkeiten, die verborgene Machstrukturen und historische Diskontinuitäten freilegt, welche sie wiederum als Möglichkeitsbedingungen für Dinge, Bedeutungen und Akteure nachweist: Dieses Methodenversprechen hat seinen Reiz in der Verbindung einer am naturwissenschaftlichen Erkenntnisideal orientierten Nüchternheit der Analyse mit der subversiven Entlarvung historischer und letztlich auch gegenwärtiger Verhältnisse. Im konkreten Fall erweist sie sich aber erstens als empirisch unzuverlässig, weil die grosse Einsperrung im 17. Jahrhundert offenbar weniger ein feststellbares Faktum als eine kühne Hypothese ist und wohl gar nicht stattgefunden hat – auch nicht im idealtypischen Sinn. Liesse man die Hypothese jedoch gelten, wäre es zweitens keineswegs evident, dass der cartesische Text diesen Ausschluss des Wahnsinns einfach semantisch nachvollzieht und die abschätzige Bemerkung über die Verrückten nicht vielmehr als rhetorische Überleitung in noch radikalere oder verrücktere Stufen des Zweifels verwendet. Und zu guter Letzt bliebe es fraglich, ob und wie eine solche diskursive Ausschlussgeste überhaupt konstitutiv für Descartes' philosophische Argumentation gewesen sein könnte.
Die archäologische Methode hält offenbar, wie das prominente Beispiel zeigt, in der konkreten Anwendung nicht, was ihre abstrakte Terminologie verspricht. Sie liefert für die historische Verortung des cartesischen Rationalismus keine halbwegs solide Erkenntnis von "diskursiven Formationen", "historischen Aprioris" oder gar die Enthüllung eines "positiven Unbewussten des Wissens", sondern bestenfalls gewagte Interpretationen oder blosse Behauptungen. Auch wenn man die Archäologie nur als Entwurf oder Versuch versteht, bildet sie jedoch so etwas wie den methodischen Kern von Foucaults Denken, welches Geschichte in subversiver Weise mit Philosophie beziehungsweise mit transzendentalphilosophischem Vokabular verschränkt, um die Kontingenz, Historizität oder Machtfunktion gegenwärtiger Ordnungen des Wissens und Lebens aufzuzeigen. Die prinzipielle Unbegrenztheit dieses Unternehmens verleiht ihm die Aura einer kritischen Meta-Wissenschaft, was von Foucault nicht beabsichtigt gewesen sein muss, aber zu einem guten Teil seinen enormen und anhaltenden Einfluss auf die Geisteswissenschaften erklärt.
Die Wirkmächtigkeit foucaultscher "Theorie" erschliesst sich aber auch aus ihren Isomorphien mit einer Lehre, deren einst prägende Kraft auf eine akademische und aktivistische Intelligenz kaum überschätzt werden kann. Eine Lehre, die ein "wissenschaftliches" Verständnis von Geschichte und Gegenwart durch die Analyse fundamentaler ökonomischer "Gesellschaftsformationen" und die Einsicht in deren gleichsam naturgesetzlichen Entwicklungslogik verhiess; die das Bewusstsein oder die "Bewusstseinsformen" als aus dem "gesellschaftlichen Sein" beziehungsweise den "sozioökonomischen Strukturen" bestimmt sah, folglich alles vorrangig oder ausschliesslich als gesellschaftliche Tatsache verstand. Dieser Lehre entsprechend wäre Descartes als Angehöriger einer "Gesellschaftsformation" und Akteur in einem gerichteten historischen Prozess zu deuten, der sich in der Sicherheit seiner warmen Studierstube seiner selbst vergewissern will, indem er mit hypothetischen Ungeheuern ringt statt die Ungeheuerlichkeit oder Widersprüchlichkeit der "wirklichen Verhältnisse" zu konfrontieren, und der daher im Wesentlichen als ein Art frühneuzeitlicher Kleinbürger zu gelten hätte. Es ist neben der Perspektive auf eine übergeordnete Gesetzmässigkeit bekanntlich jene unentrinnbare Verbindung von Theorie und Praxis, welche die Anziehungskraft des Marxismus in allen seinen schillernden Varianten ausmachte und der gemäss sowohl Descartes als auch seine Interpreten danach zu beurteilen sind, ob sie – aus Interesse, Ignoranz oder "falschem Bewusstsein" – der notwendigen Gesamtentwicklung hin zu einer kommunistischen Weltgesellschaft im Weg stehen oder nicht. In der Hauptsache war es aber das Programm einer wissenschaftlichen Durchdringung der sozioökonomischen Basis, aus der heraus sich alles Übrige dialektisch entwickeln und erklären liesse, was dem Marxismus nicht nur sein intellektuelles Prestige verlieh, sondern auch seine prognostischen oder planerischen Ambitionen begründete und schliesslich sein mehrfaches Scheitern – in der Vorhersage wie im Experiment – besiegelte.
Foucaults "Theorie" oder Methodik steht zwar in wichtigen Punkten quer zur marxistischen Doktrin, was sich besonders an der hervorgehobenen Diskontinuität und Anonymität historischer Prozesse zeigt. Gleichwohl offeriert sie eine Analyse fundamentaler Strukturen und Determinanten, die mehr sein will als einfach eine andere Interpretation, und beruft sich dafür auf eine Haltung nüchterner, feststellender Wissenschaftlichkeit. Die sozioökonomische Reduktionsbasis wird durch eine soziokulturelle ersetzt und anstelle des Nachweises einer kontinuierlichen Entwicklungslogik tritt die Erforschung grundlegender Brüche. Innerhalb der so identifizierten historischen Schichten ist wiederum alles Wesentliche durch jene konstitutiven patterns bedingt, deren Erforschung einem "diskursanalytischen", "archäologischen" oder auf "Dispositive" und "Gouvernementalitäten" spezialisierten Scharfblick vorbehalten bleibt. Damit ist ein aktivistischer Geist, der die Verhältnisse nicht nur vertieft durchdringen, sondern auch radikal verändern will, ausreichend bedient. Denn die so entborgenen, apriorischen Regelmässigkeiten können im Verhältnis zur sozioökonomischen Theoriesphäre als elementarer und dieser gleichsam vorgelagert aufgefasst werden; zudem dispensiert die prinzipielle Rolle historischer Diskontinuitäten oder Brüche von der Beschwerlichkeit falsifizierbarer Prognosen. Auf jeden Fall aber ist erneut ein grosser "Theoretiker" mit einprägsamer Terminologie zur Hand, der als zitierfähige Referenz funktioniert und auf dessen Autorität auch Verlass ist, ohne dass man ihn wirklich gelesen haben muss.
3. APPARATE UND DISKURSE – EIN LEBENSLAUF ↑
Als ambitionierter und dem strikten Regime französischer Eliteschulen unterworfener Philosophiestudent hegte Foucault ein leidenschaftliches Interesse für Kunst und träumte davon, Schriftsteller zu werden. Seine musische Veranlagung und solitäre Sensibilität vertrugen sich jedoch schlecht mit dem universitären Internatsbetrieb, so dass die Situation bald in eine prägende Erfahrung mit dem psychiatrischen Massnahmenapparat mündete. Auch der Austritt aus der Kommunistischen Partei, der Foucault einst im Gleichschritt mit der Mehrheit der politisch aktiven Studentenschaft beigetreten war, schien durch diesen inneren Konflikt motiviert. Und noch während der Arbeit an Wahnsinn und Gesellschaft, als er als Kulturfunktionär in Schweden, Polen und Deutschland weilte, spielte er offenbar mit dem Gedanken an ein Leben als unabhängiger, reisender Journalist. Es wäre also beinahe dazu gekommen, dass wir Foucault heute als Autor brillanter historischer Romane rezipieren oder ihn für scharfsinnige Reportagen von den Brennpunkten des weltpolitischen Geschehens schätzen würden.
Wahnsinn und Gesellschaft wurde schliesslich, nach aussichtslosen Einreichungsversuchen in Schweden, von der Sorbonne als Dissertation angenommen, und Foucault kehrte nach Frankreich zurück, um das Joch des akademischen cursus honorum auf sich zu nehmen. Diesen mühseligen Pfad, der über unbedeutende Aussenposten und nach Massgabe ebenso vieler ungeschriebener wie deklarierter Selektionsregeln entweder zurück in die Hauptstadt oder nirgendwo hin führt, bewältigte der vormals labile Student nun mit viel Hartnäckigkeit und Talent. Will man also Foucaults Werdegang von aussen nachvollziehen, so sind gewiss Didier Eribon's biographische Darstellungen das akkurate Mittel, zumal sie sich über weite Strecken wie eine monotone Aneinanderreihung von Postenwechseln, Pfründenvergaben, Begutachtungen und Seilschaften beziehungsweise wie ein Who's who des damaligen akademischen Hoflebens in Frankreich lesen. Die exegetische Innenperspektive auf das hierbei entstandenen Textkorpus wäre wiederum gut beraten, gerade die abstrakten und obskuren Passagen nicht nur als Aufzeichnungen tiefer, schwer vermittelbarer Intuitionen, sondern auch als ein Protokoll der Rücksichten, Absichten und Vorsichten gegenüber diesem Apparat oder, nun ja, Dispositiv zu verstehen. Es ist mithin die einzigartige Weise, eine steile Karriere in diesem sehr regelkonformen Umfeld mit reichlich subversivem Aktivismus zu verbinden, die Foucaults Genialität oder das Betriebsgeheimnis seines Werks ausmacht – auch wenn in der Folge unklar bleibt, was jeweils als originelle Einsicht eines intellektuellen Grenzgängers gelten kann und was den rhetorischen Strategemen eines akademischen Apparatschiks zuzurechnen ist. Ausserdem erweist sich das Œuvre trotz oder gerade wegen seiner subversiven Volte – und viel stärker als die internationale Rezeption wahrhaben will – als ganz und gar einem französischen Kosmos oder Resonanzraum verhaftet.
Ende der 60er-Jahre, auf der Höhe seines Ruhms angelangt, fand sich Foucault bald mit der Forderung konfrontiert, die idiosynkratische Argumentation seiner früheren Publikationen zu rechtfertigen oder wenigstens methodisch zu reflektieren. Er antwortete mit der Veröffentlichung der Archäologie des Wissens, deren hochfliegende Ausführungen jedoch auch durch Erdung im literarisch-anschaulichen Substrat von Wahnsinn und Gesellschaft nicht wirklich greifbar werden. Die abstrakten methodologischen Reflexionen der Archäologie bieten seither unaufhörlich Anlass für ernsthafte Deutungsbemühungen um den intelligiblen oder anwendbaren Kern der "Theorie". Demgegenüber wollen feinere Ohren zwischen den anspruchsvollen Zeilen schon das Lachen jenes Gelehrten vernommen haben, der bekanntlich allergisch auf die Frage nach seinem Identitätsausweis oder, in diesem Fall, nach seiner methodologischen Arbeitserlaubnis reagierte, und der als abgefeimter Routinier wohl wusste, was für einen Knochen er der theoriehungrigen Schar seiner Adepten und Kritiker hinzuwerfen hatte, um sie nachhaltig zu beschäftigen. Wie dem auch sei, die Ereignisse von 1968 lenkten Foucaults Interesse sowieso bald weg von rein akademischen Verrichtungen – boten sie doch Gelegenheit, den eigenen Aktivismus über die Universitätsmauern hinaus direkt ins gesellschaftliche Leben zu tragen.
Es begann damit jene imageprägende Phase des streitbaren Foucault auf der Strasse mit Megafon in der Hand, der sich im GIP (Groupe d'information sur les prisons) für die Rechte von Strafgefangenen einsetzte und sich mit den radikalen Forderungen militanter Maoisten gemein machte, der zur Thematik der grossen Einsperrung zurückkehrte und die disziplinierenden Machtbeziehungen und Raumordnungen zum zentralen Topos seiner Gesellschaftsanalysen erhob, den am "Diskurs" nicht mehr die "Formationen", sondern höchstens noch die Frage, wer sich seiner auf welche Weise bemächtigen kann, interessierte. Zwischenzeitlich hatte Foucault jedoch auch einen Ruf ans Collège de France erhalten und war damit auf dem Olymp des französischen Schulsystems angelangt. Zu seinen beruflichen Hauptaufgaben gehörte es nun, nach den Regeln des altehrwürdigen Etablissements in wöchentlichen Vorlesungen von seiner Forschungstätigkeit zu berichten. Die fortgesetzte Ausübung dieses Hochamtes blieb naturgemäss ohne Rücksicht auf eine persönliche oder politische Agenda verpflichtend, also auch während jener "Katerstimmung", die Foucault und seine Mitstreiter einige Jahre nach dem Abebben der 68er-Revolte heimsuchte. Gemeinhin wird diese Ernüchterungsphase als Abkehr vom politischen Radikalismus und Überwindung jener unterkomplex-überzogenen Analysen zur "panoptischen Disziplinarmacht" gedeutet; bei Foucault selber kam vermutlich die stille Einsicht hinzu, dass sein Aktivismus vorwiegend auf eine akademische Umgebung kalibriert war und jenseits davon rasch an Grenzen stiess, wie die enttäuschenden Resultate des kurzlebigen GIP nahelegten.
Offenbar war Foucault also Mitte der 1970er-Jahre jener subversive Impetus abhandengekommen, der sein bisheriges Denken und seinen Aufstieg befeuert hatte. Ohne die einstige Verve fand er sich nun festgeschraubt an seinem "Thron" oder Katheder und hatte fortlaufend neue Forschungsberichte zu liefern. Das Malaise bringt er Anfang 1976 in einer prägnanten Retrospektive auf die zurückliegenden Semester zur Sprache: "Für mich war – ich sage es Ihnen so – der Umstand, jeden Mittwochabend diese Art von Zirkus veranstalten zu müssen, eine veritable … wie soll ich es sagen … Qual wäre zu viel gesagt, Ärgernis ein bisschen zu wenig. Es lag wohl irgendwo dazwischen […] Nun, ich habe ein wenig genug davon, das heisst, ich möchte versuchen, ein Reihe bisheriger Forschungen zu beenden, abzuschliessen […] Im Grunde wird dabei unablässig dasselbe gesagt und trotzdem vielleicht nichts […]".[1] Fortan sollte ein neuer Stundenplan mit reduzierter Hörerzahl den Vorlesungsbetrieb einer echten Forschungsdiskussion annähern und Foucault damit die Gelegenheit geboten werden, zu neuen Themenfeldern mehr als "vielleicht nichts" zu sagen. In diesem Setting erblickten dann über die folgenden Jahre so einflussreiche Konzepte wie Bio-Macht oder Gouvernementalität das Licht der Welt und wurden die Analysen zum Liberalismus sowie schliesslich die Ideen zur Selbstsorge entwickelt.
Es verlangt jedoch wenig Vertrautheit mit den Quellen, um unbeeindruckt vom Lärm der Sekundärliteratur festzustellen, wie viele dieser konzeptuellen Entwürfe – zuvorderst Bio-Macht oder Bio-Politik – nur sehr dünne und im Fortgang einer mäandrierenden Recherche oft rasch wieder verworfene Skizzen blieben. Denn Foucault schien sich in seiner Themenwahl und Vorgehensweise vor allem auch mit meteorologischer Sensibilität an der Tagesaktualität jener post-revoltären Jahre orientiert zu haben – vielleicht aus einer ebenso zeittypischen Angst heraus, sonst bald zum alten Eisen zu gehören. Man kann seine Explorationen daher gewiss virtuos finden und Foucault für eine Art intellektuellen Solisten halten, der auf der Bühne ständig neue Riffs improvisierte und dabei diesen einschlägigen Theorie-Sound der 70er- und frühen 80er-Jahre erklingen liess. Wer aber die unlängst in dicken, kommentierten Bänden veröffentlichten Collège-Vorlesungen aufmerksam studiert statt sie nur nach Stichworten zu durchblättern, wird sich mehr als einmal an Schopenhauers Urteil zur akademischen Produktion seiner Tage erinnern, wo "[…] nach homoiopathischer Methode, das schwache Minimum eines Gedankens mit 50 Seiten Wortschwall diluirt und nun, mit gränzenlosem Zutrauen zur wahrhaft deutschen Geduld des Lesers, ganz gelassen, Seite nach Seite, so fortgeträtscht"[2] worden sein soll.
Foucault's Interesse verlagerte sich jedenfalls im Verlauf seiner Vorlesungen über die liberale Gouvernementalität zum Problem der Freiheit beziehungsweise zur Möglichkeit von Freiheit auf Seiten der Regierten, wobei die Argumentation wiederum weitschweifig und diffus genug ausfiel, um bis heute zwei einander diametral gegenüberstehende Lesarten zu ermöglichen: jene, die den Analytiker der Disziplinar- und Bio-Macht alle liberalen Freiheiten als perfides Kalkül moderner Herrschaft entlarven sieht, und jene vielleicht sorgfältigere, die eine irreduzible Freiheit als Gegenstück zu einer sich notwendigerweise selbst begrenzenden Regierungsweise verstanden weiss. Einigkeit besteht immerhin darüber, dass beim späten Foucault, nach jahrzehntelangem Theoretisieren über grundlegende, determinierende oder quasi-transzendentale Wissens- und Machtordnungen, eher unvermittelt das Subjekt zum zentralen Thema aufstieg. Der diesem nun zugestandene autonome Kern reduziert sich jedoch konsequenterweise auf ein "Selbst" beziehungsweise auf Praktiken oder "Techniken" einer "Selbstsorge", die ihren Ort diesseits des Gesetzes einer diskursiven oder gar symbolischen Ordnung haben.
Was man sich darunter eigentlich vorstellen soll, schien Foucault sogleich im aktuellen Weltgeschehen exemplifizieren zu wollen, als er 1978 dem Corriere della Sera eine philosophisch reflektierte Reportage über die Umwälzungen im Iran anbot. Im Aufstand gegen das Schah-Regime entdeckte er nämlich – mit einiger Begeisterung, wenn auch gleichsam unterhalb aller Ambivalenzen – das schlichte Faktum, dass Menschen sich erheben und zu historischen Akteuren werden, weil sie nicht mehr "so regiert" werden wollen. Der archimedische Punkt, von dem aus so etwas theoretisch überhaupt denkbar würde, war laut Foucault das von der Macht eben nicht komplett durchdrungene Selbst mit seinen Praktiken einer "politischen Spiritualität", die nicht nach einer (über-)weltlichen Ordnung sondern einfach nach der Überwindung der gegenwärtigen "Regierungsweise" strebt. Nicht weniger kitschig, aber gewiss treffender, wären die iranischen Vorgänge jedoch mit dem Bild beschrieben, dass das Land auf seinem sumpfigen Weg in die Moderne vom jahrhundertealten Gesetz einer religiösen Lebensweise gewaltsam in den Schoss ihrer longue durée zurückgeholt zu werden drohte. Schliesslich stand die Gefahr, dass der Iran vom Regen einer korrupten Kleptokratie in die Traufe einer totalitären Priesterherrschaft geraten würde, gleichsam in grossen Buchstaben an die Wand geschrieben. Auch wenn man Foucault vielleicht nicht vorwerfen kann, diese Zeichen durch die dicken Gläser seiner Theorie-Brille hindurch übersehen zu haben, war die Islamische Revolution – ungeachtet der reflektierten Kautelen seiner Berichte und diesseits des von ihm so meisterhaft beherrschten Spiels mit intellektuellen Referenzen und begrifflichen Innovationen – eine denkbar unpassende Gelegenheit, um in breiter Öffentlichkeit über die Ungebundenheit des "Selbst" oder eine progressiv-innerweltliche "politische Spiritualität" zu philosophieren. Nüchtern betrachtet oder an realem politischem Urteilsvermögen gemessen, hat sich Foucault hier in ähnliche Sphären verirrt wie ein Jean-Paul Sartre, der Mitte der 50er-Jahre in Zeitungsinterviews von den auf seinen Reisen durch die Sowjetunion entdeckten "neuen Menschen" und ihren "umfassenden Freiheiten" zu schwärmen wusste.
Sein eigenes Selbst schien Foucault derweil bei seinen häufigeren Aufenthalten in den USA neu zu entdecken. Des Lebens in Frankreich sichtlich überdrüssig, zeigte sich seine neue Präferenz für den American way nicht nur in einer Vorliebe für Clubsandwiches und Cola, sondern generell in einem simpleren oder eingängigeren Stil. Eine bisweilen eigenartige Scheu bei Auftritten vor amerikanischem Publikum kombinierte er mit ironischen Winken, ihn nicht so ernst zu nehmen, während das Konzept des "Wahrsprechens" oder der parrhesia, das ihn in seinen letzten Jahren so intensiv beschäftigte, ein lebensweltliches Pendant in markantem frank speech zu finden schien: Auf John Searles Frage, wieso viele seiner Texte so unlesbar seien, antwortete Foucault schliesslich unumwunden, dass zu mindestens zehn Prozent unverständlich schreiben müsse, wer in Frankreich als ernsthafter Denker gelten wolle. Solche Anekdoten regen zu Spekulationen an, welche weiteren Wandlungen Foucault vollzogen hätte, wäre er der Welt noch länger erhalten geblieben. Es liegt nicht fern anzunehmen, dass er sowohl überrascht wie auch enttäuscht hätte und heute vielleicht nicht als der grosse und schwierige "Theoretiker" gelten würde, als den man ihn zu kennen meint.
Lehrt eine seriöse Beschäftigung mit Geschichte nicht die Fremdheit oder Andersartigkeit vergangener Epochen, sind Wahrheiten nicht immer auch mit Machtverhältnissen verquickt, leben wir nicht in einer wesentlich sprachlichen Wirklichkeit und bieten diese Einsichten zusammen genommen nicht Anlass genug, dieses Substrat auf sowohl grundlegende als auch historisch wechselnde Konfigurationen und Muster hin zu analysieren? Nun wird, wer im Archivmaterial nach patterns sucht, gewiss immer solche finden, ohne jedoch von einer foucaultschen "Diskursanalyse" verlässliche Auskunft darüber erwarten zu können, wie relevant, fundamental oder zwingend sie seien. Denn so wie die Archäologie sich bestenfalls tangential zu sprachphilosophischen und linguistischen Forschungen im engeren Sinn verhält, bietet sie auch keine Erkenntnisse über die triviale Feststellung hinaus, dass dem Menschen stets sprachliche Ordnungen vorausgehen, welche sein Wahrnehmen, Denken und Handeln auch, irgendwie oder zu einem gewissen Grad beeinflussen. Aus ähnlichen Gründen scheinen Foucault's Ausführungen zu fundamental räumlichen "Dispositiven" ebenfalls nicht viel mehr zu besagen als beispielsweise das Churchill zugeschriebene Aperçu, wonach wir selber von den Gebäuden oder Architekturen geformt würden, die wir zuvor geschaffen haben.
Jene Perspektive wiederum, die symbolische und andere Formen von Interaktion im Wesentlichen als Machtbeziehungen versteht, riskiert die Nacht zu produzieren, in der alle Katzen grau sind, sofern systemische Zwänge und weitere Notwendigkeiten darin einfach zu Effekten einer ubiquitären "Macht" deklariert werden können. Mit solcher "Machtanalytik" gekoppelte "Genealogie", welche Gegengeschichten erzählen soll, ist wohl legitim, führt aber meistens nicht zu abgründigen Einsichten in die Abwesenheit eines Ursprungs beziehungsweise zu einer Umwertung aller Werte, sondern beleuchtet bloss jene immer vorhandene Unterbauchseite der Dinge, deren Anblick allenfalls die von Foucault verspotteten "Historiker in kurzen Hosen" in Aufregung versetzen sollte. Wie hohe Politik, grosse Ereignisse oder Wahrheiten unentwirrbar mit Trivialem, Groteskem oder Darmwindungen verschränkt sind, kann schliesslich schon in sogenannten Klassikern wie den Memoiren von Saint-Simon oder den Briefen von Chesterfield nachgelesen werden. Solche Autoren mag, wer will, als hochprivilegiert verdammen, sie besassen neben der Gabe eines klaren, eleganten Stils immerhin den Vorzug, in der Welt gelebt und sie aus eigener Anschauung gekannt zu haben.
In der Summe scheint die foucaultsche "Theorie" vor allem ein terminologisches Arsenal an Beschwörungsformeln zu bieten, mit denen sich Altbekanntes und Weithergeholtes unter abstraktem Geraune als subversive Kritik ausgeben lässt. Wie gering der Erkenntnisgewinn des Vorhabens im Verhältnis zur ästhetisch suggerierten Radikalität ausfällt, zeigt die Unmenge an Forschungsliteratur, welche die "Methodik" und ihre Begrifflichkeiten anwenden will, dann aber, wo sie nicht einfach Bizarres produziert, bis zur letzten Seite im Ankündigungsmodus bleibt, sich erst von weiteren Forschungen substanzielle Resultate verspricht und die Leser mit dem schalen Eindruck zurücklässt, dass der Berg erneut ein Maus geboren habe. Wiederholte Lektüren dieser Art, bei denen man wahlweise ein paar Erkenntnisbrocken aus einem verquasten Jargon herausklauben muss oder Triviales und Halbgares in unverdaulicher Theoriesauce aufgetischt bekommt, sind bestenfalls dazu geeignet, eine ehrlich interessierte Leserschaft im Wunsch nach der Umsetzung von Rorty's Theorie-Moratorium zu bestärken.
Obschon oder gerade weil Foucault's Denken also in gewisser Weise selber jener leerlaufende innerakademische Aktivismus ist, dem es als theoretische Grundlage dient, sind seine Begrifflichkeiten heute elementarer Bestandteil einer methodologischen Lingua franca, die Standards setzt und Selbstverständlichkeiten etabliert. Gegen ein Verharren in solchem Status quo wäre aus wachsender zeitlicher Distanz – und über Foucault hinaus – einmal das geisteswissenschaftliche Epigonentum im Verhältnis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts infrage zu stellen, welches der Hinterlassenschaft dieses demi-siècle in seltsamer Analogie zu naturwissenschaftlichen Fortschrittsideen das Prestige des letzten Worts zubilligt. Denn namentlich in dem, was dabei unter einem "Post"-Präfix figuriert, ist oft viel an Trauerarbeit über eine verhängnisvoll mit der Wirklichkeit kollidierte Gross-Theorie beziehungsweise eine gute Portion schlecht vergorener Marxismus und darüber hinaus recht viel veraltete Tagesaktualität enthalten. Der unerbittliche Filter der langen Zeit wird seine Arbeit so oder so verrichten, und es ist sehr fraglich, ob und wie sich der ikonisch radikale "Theoretiker" aus den 70er-Jahren darin verfangen wird.
[1] Michel Foucault: "Il faut défendre la société". Cours au Collège de France (1975-1976). Gallimard: Paris 2002. S. 6ff. [übers. d. Verf.]
[2] Arthur Schopenhauer: Parerga und Paralipomena. Kleine philosophische Schriften (Erster Band). Leipzig: Brockhaus 1877. S. 176.