"Sakralisierung des Sozialen", "Parteienregierung" und der "stets wesentliche Philosoph"
Maurice Erb
December 04, 2014 DOI: 10.13095/uzh.fsw.fb.68 editorial review CC BY 4.0 |
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Anlässlich der Wahl von François Mitterand zum ersten sozialistischen Präsidenten der Fünften Republik gelingt es Didier Eribon erst nach drei Wochen und zweimaliger Nachfrage, Foucault eine Stellungnahme zu diesem politischen Grossereignis abzuringen. Dabei kommentiert Foucault den Regierungswechsel vor allem als "Denker" und zeigt sich in seinem Urteil ebenso verhalten wie ambivalent.
Foucaults Neuproblematisierung von Macht über die Frage, "von wem" und "auf welche Weise" man regiert werden wolle, bildet offenbar das kritische Mass für seine Einschätzungen. So begrüsst er einerseits den Bruch mit der Politik der Vorgängerregierungen in den Bereichen der Migration und Strafjustiz, weil damit einer "Logik der Linken" entsprochen oder Massnahmen umgesetzt würden, die nicht mit der Mehrheitsmeinung kompatibel seien (und für deren Realisierung er in seiner militanten Phase selber gekämpft hatte). Andererseits mahnt er leicht raunend an, dass "[..…] wir nun eine Parteienregierung mit all den Gefahren [haben], die damit verbunden sind, das dürfen wir niemals vergessen".[1] Den Fragen danach, was er sich von Mitterands Reformpolitik erhoffe oder ob er sich nun selber vermehrt reformerisch betätigen und dafür mit der Regierung zusammenarbeiten würde, weicht Foucault eher aus und betont vielmehr die Bedeutung oder Vorrangigkeit (kritischen) Denkens gegenüber einer (reformerischen) Praxis. Er kontert damit auch den Vorwurf, dass die "Kritik der Intellektuellen" bislang eigentlich wenig bis nichts verändert habe. Sein Einwand ist gleichwohl fundamentaler Art, denn Foucault insistiert auf der wesentlichen Primordialität des Denkens vor einer (sozialen) Praxis mit ihren "unreflektierten Denkweisen" und schlägt dabei wunderliche Töne an: "Wir müssen uns von der Sakralisierung des Sozialen als einziger Realitätsinstanz lösen und dürfen diese im menschlichen Leben und in den zwischenmenschlichen Beziehungen so wichtige Sache, die das Denken darstellt, nicht länger als blossen Wind abtun. Das Denken existiert sehr wohl auch jenseits und diesseits der Diskurssysteme und Diskursgebäude".[2]
Wenn er im Anschluss daran folgert, dass jede Reform ohne "vorgängige Arbeit des Denkens an sich selbst" am Ende "von den immer gleichen Verhaltensweisen und Institutionen gefressen und verdaut" würde,[3] schlägt er einen indirekten Bogen zur eingangs erwähnten Gefahr der "Parteienregierung": Vergegenwärtigt man sich, dass Foucault in seinen Gouvernementalitäts-Vorlesungen den totalitären Staat als primär in der Parteienherrschaft verwurzelt sah und das Model der Pastoralmacht in einer Partei-Regierung stalinistischen oder faschistischen Typs am deutlichsten ausgeprägt fand,[4] leuchten seine Vorbehalte gegenüber dem Reformwillen eines unter Mitterand vereinten und an die Macht gelangten sozialistisch-kommunistischen Parteienapparats ein. Die Rede von einem diesseits und jenseits der Diskurse "existierenden" Denken bleibt jedoch – zumal aus dem Mund des grossen "Diskurstheoretikers" – schwieriger zu verstehen, weil man meinen könnte, dass der "diskursiven Praxis" ohne eine gewisse Unhintergeh- oder Unübersteigbarkeit durch ein "Denken" auch die wesentliche Pointe fehlt. Zwar hatte sich Foucault bekanntlich schon Anfang der 70er-Jahre von einer "Fixierung" auf den Diskurs beziehungsweise von der "Archäologie" gelöst und war nach der genealogischen Problematisierung der (Disziplinar-)Macht und den konzeptuellen Verschiebungen hin zur Frage der Regierung und Gouvernementalität schliesslich bei der Frage nach dem Selbst oder "Subjekt" angekommen. Dennoch glaubt man zu wissen, dass auch hier wieder "Praktiken" oder "Techniken" im Zentrum stünden – nun jene, mittels derer das "Selbst" auf sich wirkt und dadurch seine (prekäre) Autonomie konstituiert. Die jedoch mit aller Praxis und letztlich auch mit den "Selbstpraktiken" kontrastierende Insistenz auf der Vorrangigkeit des Denkens verleitet Eribon zur berechtigten Frage, ob es sich dabei nicht um einen "Rückzug" handle. Foucault scheint den impliziten Vorwurf der "Biedermeierei" nicht ganz zu entkräften, wenn er erwidert, dass sich seine Arbeitsweise kaum verändert habe, weil seine theoretische Arbeiten stets auf "eigenen Erfahrungen" basierten und "[..…] gleichsam Fragmente einer Autobiographie darstellten".[5] Im Grunde ist das eine auf sich persönlich gemünzte Version jener Synthesis, mit der er ab 1981 alle seine vorherigen Arbeiten unter die "Subjektproblematik" subsumierte.[6]
Der "Rückzug auf das Denken" zusammen mit dem Souci de soi als Fluchtpunkt wirft aber erneut die Frage nach dem philosophischen "Wesenskern" dieser "Selbstsorge" auf. Jedenfalls deutet der Terminus der "Sorge" an, was Foucault in seiner Vorlesung über die "Hermeneutik des Subjekts" bestätigte, nachdem man ihm mit der Frage nach der Herkunft seines Subjektbegriffs von Lacan zugesetzt hatte: "In den letzten Jahren – ich würde sogar sagen: im 20. Jahrhundert – hat es nicht so viele gegeben, welche die Frage nach der Wahrheit gestellt haben. Es gibt gar nicht viele, die gefragt haben: Wie steht es mit dem Subjekt und der Wahrheit? Wie verhält sich das Subjekt zur Wahrheit? Was ist das Subjekt der Wahrheit, was ist das Subjekt, das wahr spricht usw.? Ich sehe in der Tat nur zwei. Ich sehe nur Heidegger und Lacan. Was mich betrifft, das haben sie sicher gespürt, so habe ich eher auf Heideggers Seite und von Heidegger aus über all dies zu reflektieren versucht".[7] Die Abkunft des späten foucaultschen "Subjekts" von Heidegger wirkt vorerst nicht überraschend – wo doch alle Welt weiss, dass Foucault den Denker aus dem Schwarzwald kurz vor seinem Tod als den "für mich stets wesentlichen Philosophen" bezeichnet hat.[8] Wie nun aber genau Foucaults "[..] ganzes philosophisches Werden [..] durch [s]eine Lektüre Heideggers bestimmt"[9] war, bleibt eine ebenso offene wie wichtige Frage. Augenfällig und vielkommentiert ist die Verwandtschaft von Foucaults archäologischen Studien mit einer seinsgeschichtlichen Fundamentalontologie, das heisst mit dem Heidegger nach der "Kehre". Das hier stärker interessierende Verhältnis zum daseinsanalytischen oder – sit venia verbo – "subjektbezogenen" Heidegger vor der "Kehre" scheint nur schon deshalb kaum bestimmbar, weil Foucault selber behauptete, Sein und Zeit "praktisch nicht" zu kennen.[10] Immerhin sind aber schon seine frühesten Texte (wie die Einführung zu Ludwig Binswangers existenzialanalytischer Traumstudie oder die Interpretation der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht) regelrecht von Heideggers Denken "durchtränkt" und war dieser offenbar nicht nur für sein Nietzsche-Verständnis die wesentliche Voraussetzung, sondern ebenso für die frühe Auseinandersetzung mit Kant.[11]
Foucault datiert seine erste Heidegger-Lektüre auf 1951/1952, also auf jene Zeit, als er noch Mitglied in der Kommunistischen Partei war.[12] Die Simultaneität der beginnenden Heidegger-Rezeption mit der Mitgliedschaft in einer stramm stalinistischen Parteiorganisation, die solche abweichenden Beschäftigungen noch nicht einmal als Privatvergnügen duldete,[13] ist nicht ohne Signifikanz und scheint die vom späten Foucault offenbar wieder akut empfundene Disparatheit zwischen der fundamentalen Rolle des Denkens und dem "Preis" politisch-reformerischen Engagements vorzuzeichnen. Gemessen an der behaupteten Unvertrautheit mit Heideggers Hauptwerk erstaunt nun der existential-analytische Duktus der damals verfassten Binswanger-Einleitung, die dem Tod gegenüber dem Haupttext viel stärkeres Gewicht zuweist und die eigentliche Wahrheit und Freiheit des "Daseins" nur in der tiefen Privatheit des Traums beziehungsweise der Traumimagination zu entbergen vermag ("[..] im Traum erwacht die Existenz"[14]). Die existenzial-phänomenologische Deutung imaginärer Ent-Subjektivierung oder Ver-Subjektivierung ("im Traum sagt alles ‚Ich‘ [..]"[15]) als Kern der Freiheit und Äquivalent zum Selbstmord kontrastiert merkwürdig mit der ebenfalls zu jener Zeit entstandenen Schrift über "Geisteskrankheit und Persönlichkeit": Dort argumentiert Foucault ganz auf der Linie des offiziellen Parteidiskurses, indem er die "Flucht" in eine private "Innenwelt" als pathologische Reaktion auf soziale Widersprüche definiert, in der psychoanalytischen oder phänomenologischen Introspektion nur bürgerliche Ideologie "erkennt" und die pawlowsche Reflexologie zur einzigen "streng wissenschaftlichen" Grundlage für alle Ätiologie und Therapie erklärt.[16]
Wenn Foucault die Kommunistische Partei später mit einem "Mönchsorden"[17] vergleicht und seine Mitgliedschaft rückblickend als "Exerzitium der Ich-Auflösung"[18] beschreibt, ist das mehr als nur eine biographische Note: Es verweist ebenso – und grundlegender – auf die prägenden Bedingungen seiner frühen intellektuellen Entwicklung. Der junge Foucault schuf sich mit seinen von Binswanger und Heidegger inspirierten, existenzialphilosophischen Versuchen einen nicht nur persönlichen, sondern auch und vor allem philosophischen Rückzugsort. Ganz ähnlich ist wohl beim späten Foucault die "Sorge um sich" als (erneuter) "Rückzug auf das Wesentliche" zu verstehen, der mit einer Aufwertung des Denkens in Richtung der ihm von Heidegger zugewiesenen vor- oder fundamentalontologischen Aufgabe einhergeht. Ein tieferes Verständnis von Foucaults Begriff der "Sorge" kann wohl doch mit deren Bestimmung in Sein und Zeit gewonnen werden: "Sorge" fällt dort mit dem "Sein des Daseins" in eins und liegt als "ursprüngliche Strukturganzheit" "existenzial-apriorisch" vor jeder praktisch-pragmatischen oder apophantisch-erkennenden "Verhaltung" des Daseins: "Das Phänomen [der Sorge] drückt daher keineswegs einen Vorrang des ‚praktischen‘ Verhaltens vor dem theoretischen aus. Das nur anschauende Bestimmen eines Vorhandenen hat nicht weniger den Charakter der Sorge als eine ‚politische Aktion‘ oder das ausruhende Sichvergnügen. ‚Theorie‘ und ‚Praxis‘ sind Seinsmöglichkeiten des Seienden, dessen Sein als Sorge bestimmt werden muss".[19]
[1] Michel Foucault. Ist es also wichtig, zu denken? ("Est-il donc important de penser?", Gespräch mit D. Eribon, in: Libération, Nr. 15, 30.-31. Mai 1981, S. 21). In: Ewald, François et. al. (Hgg.): Schriften in vier Bänden, Band IV: 1980-1988. Frankfurt a. M. 2005. S. 220.
[2] l.c. S. 221f.
[3] l.c. S. 223.
[4] vgl. Michel Foucault. Die Geburt der Biopolitik (Geschichte der Gouvernementalität II). Frankfurt a. M. 2004. S. 267f. und José Luis Moreno Pestaña. Foucault, la gauche et la politique. Paris 2010. S. 116f.
[5] Michel Foucault. Ist es also wichtig, zu denken? S. 223.
[6] Michel Foucault. Hermeneutik des Subjekts (Vorlesungen am Collège de France 1981/82). Frankfurt a. M. S. 623ff.
[7] l.c. S. 240.
[8] Michel Foucault. Die Rückkehr der Moral ("Le retour de la morale", Gespräch mit G. Barbedette und A. Scala, 29. Mai 1984, in: Les Nouvelles littéraires, Nr. 2937, 28. Juni – 5. Juli 1984, S: 36-41). In: Ewald, François et. al. (Hgg.): Schriften in vier Bänden, Band IV: 1980-1988. Frankfurt a. M. 2005. S. 867.
[9] l.c. S. 868.
[10] l.c.
[11] vgl. Jorge Davila, Frédéric Gros. Michel Foucault, Lector de Kant. Mérida (VE) 1998.
[12] Michel Foucault. Die Rückkehr der Moral. S. 867f.
[13] Siehe dazu Jeannine Verdès-Leroux. Au service du parti: le Parti communiste, les intellectuels et la culture (1944-1956). Paris 1983. S. 20ff..
[14] Michel Foucault. Introduction (in: Binswanger (L.), Le Rêve et l'Existence (trad. J.Verdeaux), Paris, Desclée de Brouwer, 1954, pp. 9-128) in: Defert, Daniel, Ewald, François (Hgg.). Dits et écrits / Michel Foucault, 1 : 1954 – 1969. Paris 1994. S. 94.
[15] l.c. S. 100.
[16] Michel Foucault. Maladie mentale et personnalité (Initiation philosophique). Paris 1954. S. 69ff., 89 u. 92ff.
[17] Michel Foucault. Gespräch mit Yoshimoto Takaaki ("Sekai-ninshiki no hôhô: marx-shugi wo dô shimatsu suruka" ("La méthodologie pour la connaissance du monde: comment se débarrasser du marxisme"; entretien avec R. Yoshimoto, 25 avril 1978; trad. R. Nakamura), Umi, juillet 1978, pp.302-328). In: Ewald, François et. al. (Hgg.): Schriften in vier Bänden, Band III: 1976-1979. Frankfurt a. M. 2005. S. 770.
[18] Michel Foucault. Der Mensch ist ein Erfahrungstier : Gespräch mit Ducio Trombadori. Frankfurt a. M. S. 40.
[19] Martin Heidegger. Sein und Zeit. Tübingen 2006. S. 182, 193 u. 284.