Die Zeit von Bruch und Faltung: Anschlüsse zwischen Foucault und Serres
Lisa Malich
February 20, 2015 DOI: 10.13095/uzh.fsw.fb.74 editorial review CC BY 4.0 |
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serres
Die Zeit des Diskurses wirkt brüchig. Schließlich stellt die Konzentration auf Brüche in Aussagesystemen und auf historische Diskontinuitäten ein zentrales Element der diskursanalytischen Vorgehensweise dar. Dieser Fokus auf das Diskontinuierliche ist bereits in der Archäologie des Wissens prägend, also derjenigen Arbeit Foucaults, die 1969 in Frankreich erstmals erschien und die als grundlegend für seine Methodik und Definition des Diskurses gilt. Hier begreift er die "Suche nach den Diskontinuitäten" als den Mittelpunkt seiner Methode und bestimmt den Bruch in einer doppelten Funktion, nämlich als "zugleich Instrument und Gegenstand der Untersuchung"[1]. Auch verschiedene Ansätze in seiner Nachfolge betonen die diskontinuierliche Perspektive, und so werden in vielen empirischen Arbeiten immer wieder diskursive Wandel, Modifikationen von Wissensordnungen und Brüche in Aussagesystemen postuliert.
Die Schwerpunktsetzung auf den Bruch ergab sich für Foucault aus der deutlichen Abgrenzung zu Formen der Geschichtsschreibung, die in den 1950er und 1960er Jahren dominierten. Das betraf nicht nur teleologische Interpretationen marxistischer Theorie, sondern ganz besonders die traditionelle Ideengeschichte. Ihre Vorstellungen von linearer Entwicklung und ihre homogenisierenden Narrative waren es, gegen die sich die Figur des Bruches richten sollte. Dabei erfolgte die diskursanalytische Positionierung gegen die Ideengeschichte auch in Bezug auf Konzepte von Zeitlichkeit. So warf Foucault jener vor, "das Feld der Diskurse als einen zweiwertigen Bereich" zu behandeln, in der jedes Element als "alt oder neu; unbekannt oder wiederholt" charakterisiert werden könne.[2] Hierbei entstünde eine Hierarchie zwischen den zeitlichen Polen, in denen das Neue als Verbesserung und aktive Leistung, das Alte als Vorstufe, Irrtum oder überholter und passiver Rest betrachtet werde. Je nachdem, worauf sich die Ideengeschichte konzentriere, beschreibe sie so entweder "die kontinuierliche Linie einer Evolution" oder konzipiere "ununterbrochene Wirkungsschichten".[3] In beiden Fällen sei sie geprägt von "Genese, Kontinuität, Totalisierung"[4] und ziele auf die "zeitliche Abfolge"[5] von Geschehnissen. Das Zeitkonzept der Diskursanalyse unterscheide sich hiervon in wesentlichen Punkten. So erklärt Foucault, der Diskurs habe nicht einen "diachronischen Charakter" oder "ein einförmiges Modell der Temporalisierung"[6], sondern besitze ein eigenes "Historizitätsmodell"[7]. Dieses Modell richte sich in erster Linie nach den diskursiven Formationsregeln – für die Analyse ist hierbei also entscheidend, ob die Aussagen den gleichen Regeln unterworfen sind. Aus diesem Grund spricht Foucault auch davon, dass seine archäologische Methode zunächst eine "Schicht von Aussagehomogenität"[8] beschreibe. Innerhalb einer solchen Schicht, die durch gleiche Formationsregeln bestimmt ist, sei von einer "zeitweilige[n] Aufhebung zeitlicher Folgen"[9] auszugehen. Zentral für die diskursive Temporalität seien dagegen vor allem die Wechsel zwischen den Schichten, durch die sich jeweils spezifische Serien ergeben. Foucault konzeptionalisiert hier je individuelle zeitliche Rhythmiken und entwirft so eine Multitemporalität von Diskursen. Angelegt ist in dieser Heterogenität – um Blochs[10] berühmtes Diktum aufzunehmen– eine 'Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen'.
Die Wende zur Diskontinuität, die sich aus der Abgrenzung zur damals hegemonialen Geschichtsschreibung ergab, birgt jedoch einige Tücken in sich. Denn auf konzeptioneller wie praktischer Ebene droht die Dominanz des Bruches gerade das lineare Zeitkonzept zu verstärkten, das sie destabilisieren soll. Ein erstes Problem lässt sich bereits in den Begriffen des Bruches oder der Diskontinuität in Verbindung mit dem Seriellen ausmachen. Zwar lehnt Foucault die Vorannahme von linearen Abfolgen und diachronen Ordnungen ebenso ab wie die Zweiteilung in alt und neu. Auch richtet er sich gegen die Annahme eines klaren und synchronen Wechsels. Doch paradoxerweise impliziert der Begriff des Bruchs eben das: Ein Diskurs, so die diesen Begrifflichkeiten inhärente Figur, verändert sich von dem einen Zustand in der Vergangenheit hin zu einem radikal anderen in der Gegenwart. Er wechselt von alt zu neu und bewegt sich damit durchaus in dem zweiwertigen Bereich von Zeitlichkeit, den Foucault in Bezug auf die Ideengeschichte kritisiert.
Ein zweites Problem ergibt sich aus der Rezeption Foucaults, dessen Ansatz mittlerweile selbst eine Art 'Bruch' in geschichtswissenschaftlicher Theorie und Methodik darstellt. Zwar betont Foucault die Spezifität bestimmter Diskursformationen, in der Forschungspraxis kommt es jedoch oft zu verallgemeinerten Periodisierungen. Einmal in einem bestimmten Quellenmaterial konstatiert, scheint sich ein Bruch in seiner generalisierten Form manchmal durch sämtliche diskursive Gebiete zu ziehen. Seine Zeit wirkt total. Zudem erhöht das Ausrufen eines diskursiven Bruches das wissenschaftliche Prestige. Damit verbunden ist die Gefahr, dass Kontinuitäten wegen der Konzentration auf Brüche keine Berücksichtigung finden, und zwar – im Gegensatz zur bereits erwähnten Doppelfunktion der Diskontinuitäten – weder als Objekte noch als Instrumente der Analyse. Diese Vernachlässigung kann zum einen dazu verleiten, fortdauernde und wiederkehrende Elemente in der Forschungspraxis zu ignorieren oder in dem untersuchten oder in angrenzenden Diskursen lediglich als passiven und irrelevanten Restbestand zu interpretieren.
Wie aber können Kontinuitäten Beachtung in der Diskursanalyse finden? Hierzu lohnt es sich, noch einmal zurück zu Foucaults Systematisierungen zu gehen und zu betrachten, was er unter Kontinuitäten versteht. In der Archäologie des Wissens arbeitet er implizit mit zwei Bedeutungen des Begriffes Kontinuität, einer negativ und einer positiv bewerteten. Erstens verwendet er ihn – und das weitaus häufiger – als Gegenbegriff zur von ihm präferierten Diskontinuität. In diesem Sinne stehen besonders die "unreflektierten Kontinuitäten"[11] für diejenigen Ansätze, die er ablehnt. Diese seien mit Begriffen der "Tradition", des "Einflusses", der "Entwicklung und Evolution" und "Mentalität" verbunden.[12] Er lehnt die Kontinuität also als allgemeine Forschungsperspektive oder – um auf seine eingangs genannte Zweifachnutzung des Diskontinuitätsbegriffs zurückzukommen – als 'Instrument' der Analyse ab. Beibehalten werden jedoch Kontinuitäten als 'Gegenstände' der Analyse, die hier als stabile, fortbestehende oder wiederkehrende Aussagenelemente verstanden werden. Auch solche kontinuierlichen Aussagen bedürften einer Untersuchung. Denn "daß das Gleiche, das Wiederholte und das Ununterbrochene [würden] nicht weniger Probleme stellen als die Brüche", so dass es zu zeigen gelte, "wie das Kontinuierliche aufgrund derselben Bedingungen und nach denselben Regeln gebildet wird wie die Dispersion".[13] Foucault lehnt Kontinuitäten also keineswegs vollständig ab, vielmehr richtet er sich gegen ihre unreflektierte Annahme, behält sie als Objekte der Analyse jedoch bei.
Lassen sich in der Diskursanalyse die positiv gewerteten Kontinuitäten als Objekte untersuchen, ohne zugleich auch die negativ bewerteten Vorstellungen von Kontinuität als Linearität, Teleologie und totaler Zeit zu adaptieren? Wie kann man die Multitemporalität von Diskursformationen theoretisieren und vermeiden, dass die Brüche des einen Diskurses auch die Brüche des anderen Diskurses vorgeben, dass also beispielsweise die Zeitlichkeit der Wissenschaft auch die des populären Diskurses bestimmt? Und ließe sich die Kontinuität nicht nur als Objekt der Untersuchung, sondern unter bestimmten Umständen auch als ihr Instrument verwenden?
Vielleicht bietet ein zur Figur des Bruchs alternatives Konzept von Temporalität und Historizität einen Ansatzpunkt, das von einem Zeitgenossen Foucaults entwickelt wurde. Es handelt sich um die Vorstellung der gefalteten Zeit des Philosophen Michel Serres, das dieser rund zwei Jahrzehnte nach der Archäologie öffentlich machte. In einer Interviewreihe nach seiner methodologischen Vorgehensweise gefragt, bei der er oft sehr unmittelbar wissenschaftliche Konzepte aus den verschiedensten historischen Epochen und geistesgeschichtlichen Traditionen nebeneinander stellt, positioniert Serres sein Konzept als Gegenmodell zu einem linearen Modell von Zeit und Erkenntnisfortschritt. Stattdessen entwirft er Zeit als Faltung, "a kind of crumpling, a multiple, foldable diversity"[14]. Zur Veranschaulichung verwendet Serres das Bild eines Taschentuches: Liegt das Tuch glatt gestrichen auf einem Tisch, so lassen sich verschiedene Punkte auf ihm markieren und deren Abstand zueinander genau bemessen. Wird das Taschentuch nun aber gefaltet oder zerknittert, sind vorher weit entfernte Punkte plötzlich nah und berühren einander. Serres topologisch ausgerichtete Vorstellung von gefalteter Zeit spiegelt sich auch in seiner Betrachtung historischer Epochenbildung, Wissensgeschichte und vor allem der Konstitution neuer Wissenskonzepte. Laut Serres tragen diese nicht nur die Zeit und Wissenschaftsphase ihrer Kreation in sich, sondern sind multitemporäre oder polychronologische Gebilde, sie weisen Überlappungen zu und Verbindungen mit verschiedenen vergangenen, gegenwärtigen und futuristischen Wissenskonzepten auf: "every historical area is likewise multitemporal, simoultaneously drawing from the obsolete, the contemporary, and the futuristic. An object, a circumstance, is thus polychronic, multitemporal, and reveals a time that is gathered together, with multiple pleats"[15].
Auf diese Weise sind Kontinuitäten und rekurrierende Elemente als Berührungen, Überlappungen und Faltungen zu theoretisieren, ohne das Konzept einer kontinuierlichen und eindimensionalen Zeitlichkeit adaptieren zu müssen. Dabei wird jedoch auch der Blick auf Diskontinuitäten verändert, die nun als faltungsbedingte Verschiebungen, Kanten und Unterteilungen zu denken sind. Anders als die Figur des Bruchs, die eine klare, abgeschlossene Trennung impliziert, verdeutlicht hier die Figur der Faltung, dass verschiedene Elemente, diskontinuierliche wie kontinuierliche, weiter in Verbindung miteinander stehen. Denn wie auch Deleuze[16] in seiner Arbeit zur Falte beschreibt, beinhaltet dieses Modell die Kohärenz einzelner Entitäten und verdeutlicht, dass Teile zwar unterscheidbar, jedoch gleichzeitig untrennbar sein können. Mit der Figur der Zeitfaltung ist somit auch das interdependente Verhältnis heterogener Aussagen und Diskursformationen denkbar. Vor allem aber lässt sich damit der Aspekt von Kontinuität nicht nur als Objekt, sondern auch als Instrument der Analyse konzeptionalisieren, mit dem sich Fortführungen und Wiederholung, stabile Bestandteile in Wechseln und spezifische Temporalitäten sichtbar machen und untersuchen lassen.
Sicherlich handelt es sich keinesfalls um einen Zufall, dass Serres Figur der Faltung anschlussfähig an Foucaults Ansatz ist. Schließlich teilen Foucault und der vier Jahre jüngere Serres einen gemeinsamen intellektuellen Hintergrund und ähnliche theoretische Einflüsse. Foucault und Serres trafen sich in den 1960er Jahren als Kollegen an ihren ersten akademischen Stationen in Clermont-Ferrand, freundeten sich an und diskutierten unter anderem Textpassagen der damals entstehenden Ordnung der Dinge[17], in welcher der Diskursbegriff noch stärker topologisch geprägt war.[18] Serres rezipierte bereits verhältnismäßig früh Foucaults Wahnsinn und Gesellschaft.[19] Foucault wiederum stellte in der Einleitung seiner Archäologie Serres' Geschichte der Mathematik als gerade eine der neuen Historiografien des Denkens vor, die auf die Unterbrechung fokussierten und sich von der traditionellen Ideengeschichte absetzten. Zudem sind, wie David Webb[20] herausgearbeitet hat, auch implizite Einflüsse von Serres Modell des Atomismus auf Foucaults Konzeption diskursiver Ordnung und reziproke Einflussbeziehungen erkennbar.
Der Einbezug solch historischer, theoretischer und persönlicher Verbindungslinien ermöglicht, Foucaults Werk weniger in seinen von ihm selbst deklarierten Brüchen zu denken, als vielmehr die Kontinuitäten zu verwandten Ansätzen in den Blick zu bekommen. Aus dieser Perspektive wären wohl auch die wechselseitigen Einflussbeziehungen zwischen Foucault und Serres als 'Faltungen' zu verstehen.[21]
[1] Michel Foucault. Archäologie des Wissens. Frankfurt a. M. 1981. S. 18.
[2] l.c. S. 201.
[3] l.c. S. 201 – 202.
[4] l.c. S. 197.
[5] l.c. S. 236.
[6] l.c. S. 284-285.
[7] l.c. S. 241.
[8] l.c. S. 212.
[9] l.c. S. 237.
[10] Ernst Bloch. Erbschaft dieser Zeit. Frankfurt a. M. 1962.
[11] Michel Foucault. Archäologie des Wissens S. 38.
[12] l.c. S. 33-34.
[13] l.c. S. 248-249.
[14] Michel Serres, Bruno Latour. Conversations on science, culture, and time. Ann Arbor. 1995. S. 59.
[15] l.c. S. 60.
[16] Gilles Deleuze. Die Falte: Leibniz und der Barock. Frankfurt a. M. 1988.
[17] Didier Eribon. Michel Foucault: Eine Biographie. Frankfurt a. M. 1999. S. 216.
[18] Auch war der Diskursbegriff hier noch nicht so sehr am Aspekt des Seriellen orientiert. Stattdessen thematisierte Foucault die Verbindung von gleichzeitigen und ungleichzeitigen Elementen, indem er zeigte, wie neue epistemische Modelle auf alte zurückgriffen. Zum Beispiel zeigte er in der Ordnung der Dinge, dass sich in Konzepten des Strukturalismus Anteile der klassischen Episteme fortsetzen. Ich bedanke mich bei Maurice Erb für diesen wichtigen Hinweis.
[19] l.c. S. 186.
[20] David Webb. Microphysics: from Bachelard and Serres to Foucault. Angelaki, 2005. 10(3). S. 123-133.
[21] Für eine ausführlichere Lektüre einiger Aspekte dieses Beitrags siehe: Lisa Malich. Faltungen von Zeit – zum Umgang mit Kontinuitäten in der diskursanalytisch inspirierten Geschlechtergeschichte. In Jacob Guggenheimer, Utta Isop, Doris Leibetseder, Kirstin Mertlitsch. When we were gender. Bielefeld.2013. S. 18-31.