Maurice Erb
May 28, 2015 DOI: 10.13095/uzh.fsw.fb.90 editorial review CC BY 4.0 |
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stigmergy
So klar es im Allgemeinen ist, dass Foucault eigentlich "nur" ein Thema beständig variiert – das diachrone und synchrone Verhältnis zwischen den Ordnungen des Wissens und den Ordnungen der Macht im Hinblick auf ein "produziertes", "selbstsorgendes" oder als "Erfahrungstier" verstandenes Subjekt – , so unklar bleibt im Speziellen seine jenseits hermeneutischer, strukturalistischer und anderer Traditionen entwickelte Begrifflichkeit. Dabei wurde unlängst deutlich, dass sich in den Naturwissenschaften und besonders in der Biologie offenbar ein Schlüssel für ein besseres Verständnis von so zentralen Begriffen wie jenem der "diskursiven Formation" finden lässt. Vielleicht lohnt sich deshalb ein weiterer Vergleich mit einem Konzept aus der modernen Biologie, das in verschiedener Hinsicht in Foucaults Nähe zu verorten ist – dem der Stigmergie.
Die "Geburtsstunde" der Stigmergie ist ein 1959 veröffentlichtes paper des französischen Zoologen Pierre-Paul Grassé, in dem der Termiten-Experte seine neuesten Forschungsergebnisse zum kollektiv-kooperativen Verhalten der insectes constructeurs resümiert.[1] Der seit 1935 als Assistenzprofessor und ab 1944 als Inhaber des Lehrstuhls für Zoologie und Entwicklung der Arten an der Sorbonne wirkende Wissenschaftler bringt mit der Wortschöpfung – abgeleitet aus dem griechischen στιγμα für Markierung und εργον für Arbeit – eine wesentliche Einsicht auf den Punkt: Die Kooperation und das "kollektive Werk" der Termiten wird erst möglich über die Stimulation der "Arbeiter" durch die von ihnen erbrachten Leistungen. Stigmergie bezeichnet mithin den grundlegenden Mechanismus, dass die Handlungen eines Akteurs Zeichen oder Signale (im Fall der Termiten Pheromonspuren) in der Umgebung hinterlassen, die dann die Handlungen weiterer Akteure anreizen und anleiten. Der für die Erklärung der emergenten Ordnung von Insektenbauten oder "Insektenstaaten" entworfene Begriff gilt mittlerweile als ein Paradigma der Schwarmintelligenz und bildet im Zeitalter des Internet den theoretischen Background für Projekte der commons-based peer production wie open source-Softwareentwickung oder Wikipedia.
Termitenhügel
Neben dem positiven Aspekt der freien, strukturbildenden Kollaboration von peers können stigmergische Phänomene aber auch den negativen Aspekt einer übermässig heteronomen Wirkung gewachsener Ordnungen und "Anreize" auf die Akteure aufweisen. Sie wirken dann gleichsam wie "Verschwörungen von unten" oder Einschränkungen der Freiheit ohne eindeutige "Orte" von Macht und Widerstand. Hier bietet sich nun ein Vergleich mit Foucaults Theoriebildung geradezu an. Schliesslich haben die von ihm beschriebenen Ordnungen des Wissens (wie Diskursformationen) oder der Macht (wie das panoptische Dispositiv) nicht nur einen stets räumlichen und oft geradezu "architektonischen" Charakter, sie werden auch immer als bottom up-Phänomene dargestellt. So sind es letztlich Serien von Aussage-Ereignissen, die den Diskurs formieren und transformieren,[2] und ist es im Grunde der "bebende Sockel" unablässiger Kämpfe und Konflikte, der die grossen Dispositive und Herrschaftssysteme als "Kristallisierungen" oder "Hegemonieeffekte" hervorbringt.[3] Während sich der Rekurs auf Darwin oder eine darwinistische "Epistemologie des Konkreten" als hilfreich für ein tieferes Verständnis der Kontingenz und Veränderbarkeit der von Foucault untersuchten Ordnungen erweist, wären mit den Konzepten des überzeugten Lamarckisten und Darwin-Kritikers Grassé vielleicht bessere Einsichten in die Emergenz und Persistenz dieser Ordnungen sowie in die Mechanismen der "Akteurseinbindung" oder "Subjektivierung" zu gewinnen. Eine Bezugnahme auf das "Stigmergische" in Foucaults Denken, die mehr als ein exegetischer Behelf sein will, müsste aber eine direkte Beeinflussung oder Rezeption nachweisen, wofür es im Vergleich zu einem vornehmlich über Nietzsche rezipierten Darwin und trotz der zeitlichen, geographischen und institutionellen Nähe zu Grassé an einschlägigen Belegen mangelt. Dennoch ist es nicht unwahrscheinlich, dass ein schon früh seine "Fühler" nach allen Seiten ausstreckender Foucault, der 1954 notabene eine Doktorarbeit mit dem Titel "Untersuchung über die Psychophysik des Signals und die statistische Interpretation seiner Wahrnehmung" plante,[4] mit den Ideen seines berühmten Kollegen in Berührung gekommen ist und diese ihre Wirkung auf sein ebenso heterodoxes wie synkretistisches Denken nicht verfehlten.
[1] Pierre-Paul Grassé: La reconstruction du nid et les coordinations inter-individuelles chez Bellicositermes natalensis et Cubitermes sp. La théorie de la stigmergie: Essai d'interprétation du comportement des Termites constructeurs. In: Insectes Sociaux 6 (Paris 1959), S. 41–83.
[2] Michel Foucault. Archäologie des Wissens. Frankfurt a. M. 1997. S. 41ff.
[3] Michel Foucault. Der Wille zum Wissen (Geschichte der Sexualität I). Frankfurt a. M. 1991. S. 113ff.
[4] Didier Eribon. Michel Foucault und seine Zeitgenossen. München 1998. S. 123f.